BOCHUM / RUHRTRIENNALE: AUS EINEM TOTENHAUS – Premiere am 31.8. 2023– (Werner Häußner)
Copyright: Volker Beushausen
„In jedem Geschöpf ein Funke Gottes?“ Dmitri Tcherniakov glaubt nicht an das Motto, das Leoš Janáček seiner letzten Oper „Aus einem Totenhaus“ vorangestellt hat. In der Jahrhunderthalle Bochum lässt er bei seiner radikalen Triennale-Inszenierung Brutalität, Erniedrigung, Irrsinn schonungslos von der Kette. Der Zuschauer kann sich nicht in die Distanz zurückziehen: Die Außenperspektive aus dem Parkett gibt es nicht, eine „vierte Wand“ auch nicht. Wer kommt, ist mittendrin, und es gibt kein Entkommen.
Tcherniakov hat sich seinen Spiel-Raum in das riesige Volumen der einstigen Maschinenhalle für die Gebläse von Hochöfen selbst eingebaut: Zweistöckige Stahlgerüste bilden drei Höfe, die an Gefängnisse erinnern. Zuschauer stehen im Erdgeschoss unmittelbar an der Spielfläche, andere schauen von oben aus den Umgängen herab. Das Orchester ist – für die meisten nicht sichtbar – an der Seite platziert.
In der Wirkung erinnert das Konstrukt an die mit dem „Faust“-Theaterpreis ausgezeichneten Raumbühnen Sebastian Hannaks in Halle und Kassel, aber die Wirkung ist noch unmittelbarer: Wenn zu Beginn grölende Gefangene in den ersten Hof strömen, droht der dynamische Fluss der Horde die Zuschauer am Rand mitzureißen. Die Darsteller rücken den Besuchern hautnah, die schwitzende Aggressivität, die offensive Motorik der Aktionen droht in den Schutzraum des Individuums einzudringen. Tcherniakov kalkuliert mit dem Unangenehmen: „Wir“ und „die“ bewegen sich auf einer Ebene. Auch die Alltagskleidung, die Elena Zaytseva den Gefangenen verpasst hat, lässt keine Unterscheidung mehr zu. Und der pompös auftretende Platzkommandant (Peter Lobert) reproduziert in seinem bemüht vornehmen Anzug den Teil des Publikums, das sich für den Abend theaterfein gemacht hat.
Janáček interessiert sich in seiner aus Dostojewski-Zitaten selbst getexteten Oper für die Funken der Mitmenschlichkeit, der Empathie, letztlich des Transzendenten selbst in den verworfensten Gestalten: Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gedanken und Taten. Tcherniakov lenkt den Blick auf das Aussichtslose im Schicksal von Verbrechern, Gestrandeten, Versehrten, Gedemütigten, an sich selbst und der Welt irre Gewordenen. Die vier großen Erzählungen, in denen Janáček die gequälte Psyche unglücklicher Verbrecher mit ihrem unvermittelten Nebeneinander von Sentimentalität und Brutalität in musikalische Sprache fasst, reißen die Abgründe der menschlichen Seele auf. Leigh Melrose (Šiškov), John Daszak (Skuratov), Stefan Rügamer (Luka) und Alexej Dolgov (Šapkin) erfüllen diese herausfordernden Szenen mit grandiosen erzählerischen und darstellerischen Momenten. Auch in marginalen Rollen brillieren die Darsteller, so der 74jährige, einst an der Wiener Staatsoper u.a. als Eléazar gefeierte Tenor Neil Shicoff als Alter.
Tcherniakov gibt ihnen nur wenige Augenblicke des Innehaltens: Die Menschen in dieser Hölle sind stets der Gewalt ausgeliefert, die anlasslos aufflammen kann. Eine Gruppe von Stuntmen, mit denen der Chor des Nationaltheaters Brno bewunderungswürdig interagiert, exponiert diese Atmosphäre aggressiver Bedrohung zu Beginn in einer durchchoreographierten Prügelorgie, die Janáčeks Musik mit Gebrüll und Gelächter übertönt und ihre mild-impressionistischen Stellen gnadenlos zerfetzt.
Dass es über diese Lagerwelt hinaus noch etwas geben könnte, inszeniert Tcherniakov konsequent weg: Die verhaltenen, aber von Janáçek deutlich herausgestellten Momente der Empathie, der Menschlichkeit unter den Totenhaus-Insassen – etwa im Verhältnis des „politischen Gefangenen“ Aleksandr Petrovič Gorjančikov zu dem versehrten jungen Tartaren Aljeja (sensibel gestaltend: Bekhzod Davronov) – können die Sphäre der Brutalität nicht durchbrechen. Der von Janáček vorgesehene verletzte Adler als Symbol einer anderen Welt taucht nicht auf: Was über ihn gesagt ist, wird auf Gorjančikov bezogen, dessen Weg durch das Lager die Klammer des Stücks bildet. Seine Entlassung am Ende bleibt bei Tcherniakov irreal: Der berührende Sänger-Darsteller Johan Reuter erkennt mit einem markerschütternden Schrei den ausweglosen Alptraum.
So versucht Tcherniakov, den „Funken Gottes“ auszulöschen. Gelingen will ihm das nicht: Janáčeks Plädoyer für den Menschen und die widerständige Musik brechen sich immer wieder Bahn, nicht zuletzt dank des Einsatzes von Dirigent Dennis Russell Davies. Er schärft den Kontrast zur Szene: Bei ihm tönt geradezu die Süße Puccinis herein, spielen die Bochumer Symphoniker schwelgerisch auf, bleiben die rhythmische Härte, die scharf geschnittene Motorik, die krude insistierenden Wiederholungen behutsam gerundet. So wenig Davies sich um raue Ecken und schroffen Kanten schert, so detailliert bemüht er sich um den Sprachduktus der Musik. Die Dimension, der sich Tcherniakov in eindrucksvoller Konsequenz verweigert, öffnet Davies mit den Mitteln der Musik, und verhindert so, dass sich der Abend im Plakativen oder Spektakulären verliert. Die Ruhrtriennale hat mit diesem Paradebeispiel immersiven Theaters ihre Aufgabe gemeistert, innovative Impulse im Musiktheater zu setzen, die in dieser Art an anderer Stelle nicht möglich wären.