Bo Skovhus: „Die Werke von Alban Berg finde ich genial!“
(November 2017 / Renate Publig)
Bo Skovhus © Roland Unger
Anfang Dezember findet an der Wiener Staatsoper die Premiere von Alban Bergs Oper „Lulu“ statt, diesmal in der dreiaktigen Fassung (fertiggestellt von Friedrich Cerha). Bo Skovhus, der Darsteller des Dr. Schön / Jack the Ripper sprach über Alban Bergs Affinität zum Thema Tod und über seine Anfänge in Wien vor fast genau 30 Jahren.
Herr Skovhus, in Wien kennt man Sie bereit seit 1988, als Sie mit Don Giovanni an der Volksoper Furore machten. Im Dezember erleben wir Sie in der nächsten Premiere der Wiener Staatsoper, „Lulu“ von Alban Berg. Dazwischen lag eine Vielzahl sehr unterschiedliche Partien– eine schöne Reise, auf der wir Sie begleiten durften!
In Wien sang ich tatsächlich viele Partien, ich erinnere mich gerne an viele interessante Projekte. Es sind nun fast dreißig Jahre – und ich singe immer noch! Wenn ich mich umsehe, sind aus meiner Generation nicht so viele Kollegen übriggeblieben … Das spricht auch ein wenig von unserer heutigen Opernkultur, in der auf Sänger nicht mehr so viel Acht gegeben wird. Als ich damals in der Volksoper anfing, wurde ich sehr beschützt. Damals war ich zwar auf Eberhard Waechter sauer: Nach der Don Giovanni-Premiere wollten mich viele Häuser engagieren– Muti, Abbado –, Waechter meinte jedoch kategorisch: „Sie haben hier einen Vertrag, also bleiben Sie hier!“ Damals sah ich das nicht ein, doch heute weiß ich, er hatte Recht! Wenn man als junger Sänger zu früh in diesen Reisezirkus eingespannt wird, hält die Karriere nicht lange. Als junger Mensch steckt man die diversen Belastungen besser weg, die Zinsen zahlt man jedoch später. Es ist gut, einen Mentor zu haben, das fehlt heute zum Teil!
Um zu „Lulu“ zu kommen: Viele Operngeschichten enden natürlich mit dem Ableben einer oder mehrerer Figuren. In „Lulu“ ist hingegen der Tod selbst eines der Hauptmotive, dem wir in seinen unterschiedlichsten Formen begegnen – Selbstmord, Mord, Herzversagen?
Absolut. Derzeit singe ich auch den Wozzeck in Düsseldorf. Das Thema Tod ist in Bergs Werken allgegenwärtig, auch in seinem Violinkonzert, das nach dem Tod von Manon Gropius, der Tochter von Alma Mahler entstanden ist. Als hätte er sein eigenes Schicksal vorausgeahnt, er starb gerade mal mit 50 Jahren! Vielleicht würde man seine Affinität zu dem Thema anders deuten, wäre er 80 geworden. Und natürlich herrscht in Wien eine gewisse Grundmorbidität. Letzten Endes gilt man hier erst wirklich etwas, wenn man gestorben ist. (lacht) Bergs Werke sind meiner Meinung nach genial, ich finde es schade, dass er nur so wenig komponiert hat! Auch, dass er die Oper nicht selbst fertiggestellt hat.
Agneta Eichenholz (Lulu), Bo Skovhus (Dr. Schön) ©: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Doch es existiert ein Particell und Kompositionsskizzen, anhand derer Friedrich Cerha das Werk rekonstruierte!
Dennoch bin ich mir sicher, dass Berg das komplette Werk noch einmal geprüft und einiges gekürzt hätte. Dreiaktige Opern sind pausentechnisch ein Problem, außer die „Fledermaus“, wo man weiß, dass im dritten Akt der Frosch kommt und es lustig wird. Ansonsten muss man bei längeren Werken zwei Pausen einbauen. Doch bei einem derart intensiven Werk wie „Lulu“ ist es schwierig, die Spannung zu halten, wenn zweimal unterbrochen wird! Ich meine, wäre Berg sich dessen bewusst gewesen, hätte er es geändert. Wozzeck zum Beispiel ist so kompakt, jede Szene dauert drei bis vier Minuten. Klarerweise hängt es auch mit der Sprache zusammen, Wedekind hat einen anderen Duktus, ein viel ausführlicheren „Atem“ als Büchner, der sich sehr kurz fasst.
Dr. Schön ist eine der Schlüsselfiguren der Oper, die Figur entwickelt sich vom Geliebten, vom „Drahtzieher“ zum „Spielball“ – bis er Lulu in den Selbstmord treiben will, letzten Endes jedoch selbst umgebracht wird. Ist es dieser Reichtum an Facetten, der Sie an der Rolle reizt?
Es ist reizvoll, dass man in dieser Figur viel Unterschiedliches zeigen kann. Darüber hinaus steckt in dieser Rolle etwas Essentielles, Schön steht für das ganze Spektrum des Männlichen. Die Überlegenheit, doch auch, wie er zum Gefangenen seiner eigenen Intrigen wird. Es muss eine Verbindung zwischen Schön und Jack the Ripper geben, die ja vom gleichen Sänger dargestellt werden, ebenso zwischen dem Neger und dem Maler. All diese Doppelpartien, diese Männer trifft Lulu am Schluss erneut, doch unter anderen Vorzeichen. Berg will damit den Moment des Todes ausdrücken, in dem das ganze Leben an einem vorbeiläuft.
Zur Aufführung gelangt die von Friedrich Cerha rekonstruierte Form mit dem kompletten dritten Akt. Willy Decker, der in dieser Produktion Regie führt, hat zuvor in Wien die Fragmentversion inszeniert – werden die bereits existierenden Teile übernommen?
In der zweiaktigen Fassung hat Franz Grundheber meine Partie gesungen, ich finde es sehr lustig, dass wir nun gemeinsam auf der Bühne stehen! Es wird in etwa diese Inszenierung übernommen und um den dritten Akt erweitert. Damals wurde anstelle des letzten Aktes die Lulu-Suite gespielt, danach wurden die Dialoge gesprochen, als Abschluss kam das von Berg komponierte Finale. In der zweiaktigen Fassung hört man mehr von den Originaldialogen von Wedekind, und in der Szene mit den Aktien merkt man deutlich die Entstehungszeit, die 20-er Jahre mit dem Börsenkrach. Wie „Wozzeck“ verliert dieses Werk nie an Aktualität!
Mit Ingo Metzmacher steht ein Dirigent am Pult, der sich sehr für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts einsetzt.
Das hilft natürlich enorm! Mit Ingo habe ich unter anderem bereits „Wozzeck“ gemacht, in der Inszenierung von Peter Konwitschny. Ingo ist sehr gewissenhaft, und er hat ein sehr klares Schlagbild, was für Werke wie „Lulu“ essentiell ist. Bei einer derart komplexen Musik ist seine Klarheit enorm hilfreich.
Man muss jedoch erwähnen, wie wichtig es in einem Haus wie der Wiener Staatsoper ist, einen Souffleur zu haben, der auf einer riesigen Bühne näher bei den Sängern ist als der Dirigent. Das erleichtert es uns Sängern, und die Souffleure hier in Wien sind hervorragend! Dem Publikum ist das oft nicht bewusst, welche gewaltige Arbeit diese Kollegen leisten, wir Sänger wissen es umso mehr zu schätzen! In vielen Häusern wird der Souffleur eingespart, und an Häusern mit Stagione Betrieb funktioniert das vielleicht. In einem Haus wie in Wien ist das jedoch unerlässlich.
Auch Sie haben einen großen Bezug zur zeitgenössischen Musik, letztes Jahr sangen Sie im Theater an der Wien die Uraufführung von Anno Schreiers Oper „Hamlet“!
Im Laufe der Zeit wurde ich ein wenig hineingedrückt in die Szene der Neuen Musik. Sagt man einmal zu, könnte man plötzlich fünf Uraufführungen am Stück singen, was unmöglich ist. Der Zeitaufwand ist klarerweise ein anderer! Oft wird eine Oper nur sechs Mal gespielt, danach sieht man das Werk nie wieder, was wirklich schade ist. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik ist mir dennoch sehr wichtig, es ist für mich eine Pflicht! Ich singe nächstes Jahr – auch unter Metzmacher – ein Werk von Henze, „Das Floß der Medusa“. An dem Werk erkennt man, wie stark sich Kompositionsstile wandeln. Das Werk ist 1968 entstanden, doch diese exaltierten Nonen- und Dezimensprünge würde man heute nicht mehr komponieren. Damals wollte man ganz bewusst schräg komponieren. Es ist interessant zu beobachten, dass Komponisten heute suchen, wie sie komponieren sollen. Viele kehren zu einer gewissen Tonalität zurück, was auch nicht passt, oder komponieren ganz atonale Werke, die ebenfalls nicht so interessant sind.
Es gibt einen enormen Unterschied zwischen neuer Musik aus Europa und aus Amerika, die sich fast an Film- und Musicalmusik anlehnt. Das funktioniert in Europa nur zum Teil, wie man anhand der neuen amerikanischen Opern feststellen kann.
Wie Sie bereits erwähnten, sangen Sie gerade in Düsseldorf Wozzeck. Eine gute Vorbereitung, um in die richtige Tonsprache zu finden für die kommende Premiere?
Diese Werke nebeneinander zu singen – denn wir proben bereits seit einiger Zeit – ist ein unglaublich spannendes Unterfangen. Wenn man beide Werke vergleicht, finden wir eine unterschiedliche Tonsprache, „Lulu“ ist viel zugänglicher und weicher, fast romantisch. „Wozzeck“ ist schroffer, kantiger, was natürlich mit der Sprache der Textvorlage zusammenhängt, denn diese Unterschiede finden wir schon zwischen Wedekind und Büchner. Umgekehrt wird mir erst so richtig bewusst, wie viel „Wozzeck“ Alban Berg in seiner „Lulu“ zitiert. Plötzlich entdeckt man Akkorde, die er in einer bestimmten Form bereits verwendet hat. Gleich zu Beginn, wenn Alwa einsetzt, finden wir einen Wozzeck-Akkord – und es macht Sinn, wie Berg sich zitiert!
Diese Saison könnte kaum unterschiedlicher sein: Nach „Wozzeck“ und „Lulu“ folgen zwei Operetten – der „Graf von Luxemburg“ und „Fledermaus“. Dann das Oratorium „Floß der Medusa“, und nach „Le Nozze di Figaro“ kommt noch Janaceks „Aus einem Totenhaus“. Ein Zufall, dass Sie innerhalb eines Jahres sich mit vier höchst intensiven Werken beschäftigen?
Diese Dichte ist nicht unbedingt beabsichtigt, doch man kann manches schwer steuern. Ich kann ein Haus nicht auffordern, eine Produktion zu verschieben, weil ich davor schon für zwei andere intensive Werke zugesagt habe – da muss ich mich entscheiden, ob ich das Werk singen möchte oder nicht. Und ich bin froh, ein Werk wie „Aus einem Totenhaus“ machen zu dürfen, Janacek ist toll, auch wenn es schwierig ist, vor allem aufgrund der Sprache. Für mich als Skandinavier ist die tschechische Sprache eine andere Welt!
Wieder stellt sich die Frage, ob es notwendig ist, derartige Werke in Originalsprache aufzuführen. Natürlich hängen Sprachmelodie und Komposition sehr stark zusammen, klarerweise verliert das in einer Übersetzung. Auf der anderen Seite ist es mühsam, einem Publikum gegenüberzustehen, die nur mitlesen, weil sie die Sprache überhaupt nicht verstehen. Wir Sänger möchten mit dem Publikum kommunizieren, das wird schwierig, wenn die Zuhörer reihenweise in ihre kleinen Monitore vertieft sind. Dann wird es zur Herausforderung, das Werk mit all den Gefühlen zu transportieren!
„Lulu“ ist im Gegensatz zu manch „fantastischer“ Operngeschichte relativ realistisch, und das „Floß der Medusa“ handelt überhaupt von einer wahren, äußerst dramatischen Begebenheit. Macht das für Sie einen Unterschied in Ihrer Interpretation, wenn es sich um ein realistisches Werk handelt?
Es macht definitiv einen Unterschied. Die Geschichte vom „Floß der Medusa“ ist tatsächlich dramatisch. Ein hochaktueller Stoff! (Anm: Als die „Medusa“ 1826 Schiffbruch erlitt, belegten die „wichtigen“ Passagiere die Rettungsboote, während sich 150 Menschen der Besatzung ein Floß teilen mussten, das von den Rettungsbooten gezogen werden sollte. Die Verbindungsseile wurden bald gekappt, wodurch das Floß steuerlos im offenen Meer trieb. Nach 13 Tagen, als das Floß endlich Land erreichte, waren noch 15 Menschen am Leben.)
Wenn ein Werk nun eine wahre Begebenheit schildert oder wahr sein könnte – „Lulu“ selbst ist natürlich erfunden, aber Jack the Ripper ist eine reale Person – vermittelt das eine eigene Theatralik! Ich bin schon sehr gespannt, in Amsterdam, wo wir das „Floß“ aufführen, wird Romeo Castellucci inszenieren. Er verbietet sich jegliche Theatralik, möchte lediglich in Bildern sprechen – relativ kompliziert, auf diese Art Oper zu machen. Doch mit diesem Werk könnte es aufgehen!
Herr Skovhus, herzlichen Dank für das Gespräch und toi, toi, toi für die Premiere!