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Blu-ray: ERICH WOLFGANG KORNGOLD „DIE TOTE STADT“ – Jonas Kaufmann, Marlis Petersen, Kirill Petrenko, Simon Stone; Bayerische Staatsoper Dezember 2019

15.07.2021 | Allgemein, dvd

Blu-ray: ERICH WOLFGANG KORNGOLD „DIE TOTE STADT“ – Jonas Kaufmann, Marlis Petersen, Kirill Petrenko, Simon Stone; Bayerische Staatsoper Dezember 2019

Erste Opernpublikation des neuen Eigenlabels „Bayerische Staatsoper Recordings“

tosta

Veröffentlichung : 16.7.

Den Anfang machte erstaunlicherweise die „Siebente“ von Gustav Mahler mit Kirill Petrenko (erschienen am 28.5.2021), nun folgt mit dem Live-Mitschnitt von Korngolds „Toter Stadt“ nach einem Libretto von dessen Vater Julius Korngold die erste Oper in einer – der Melomane und Musikfreund wünschen es sich – langen Reihe an ton- und filmtechnisch erstklassigen und künstlerisch aufregenden Dokumenten. Ausgewählte Opernproduktionen und Konzertmitschnitte sowie bedeutende Archivaufnahmen in Ton oder audiovisuell sollen künftig im neuen Label der Bayerischen Staatsoper, den BSOrec, zur Verfügung stehen. Neben Produktionen aus dem Kinder- und Jugendprogramm CAMPUS werden kammermusikalische Editionen, die erstklassigen Ensembles des Bayerischen Staatsorchesters eine Plattform bieten sollen, das Angebot des Labels vervollständigen. Als nächste Neuerscheinung ist ein Akademiekonzert unter Vladimir Jurowski mit Ludwig van Beethovens „Symphonie Nr. 2 in D-Dur“ und Brett Deans „Testament“ angekündigt.

Simon Stone war der Regisseur der „Neuinszenierung“ der „Toten Stadt“, die an der Bayerischen Staatsoper am 18. November 2019 ihre Premiere feierte. Die Produktion kam am Theater Basel heraus und wurde für München bloß adaptiert. Das schöne Werk stand da seit 60 Jahren nicht mehr auf dem Opernspielplan. Stone interessiert sich in der „Toten Stadt“ für das Thema Verdrängung. „Korngold thematisiert eine nach wie vor aktuelle Neurose und mit ihr den Kampf eines modernen Mannes mit seinem Gewissen. Man müsse sich mit einem Trauma in dem Moment auseinandersetzen, in dem man es erfährt. Je länger man versucht, vor ihm davonzulaufen, umso mehr wird es die eigene geistige Gesundheit zersetzen, bis nichts mehr davon übrig ist und man nicht mehr in der Lage ist, normale Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.“

Was ist von von dieser symbolistisch überhöhten Gruselgeschichte über die krankhafte, religiös verbrämte Sehnsucht nach vergangener Liebe, über einen morbiden Totenkult, der zu Mord führt, auf dem Bildschirm zu sehen? Die opernreferentielle Auferweckung der Toten nach Meyerbeers „Robert le Diable“ jedenfalls nicht.

Eine Drehbühne gibt den Blick frei auf einen nüchternen Betonbau samt Pauls Dreizimmerwohnung, auf bescheiden schicken 50-er bis Heute-Stil getrimmt. Ikea-Küche und nüchternes Schlafzimmer (das Bett ist sicher hart). Alles atmet eine sparsam unerotische Frugalität. Es ist das übliche kleinbürgerlich spießige Ambiente, dass so viele Regisseure offenbar als das non plus ultra allen Opernverstehens ansehen. Romantik hin oder her, dafür darf zumindest optisch kein Platz sein.

Für den zweiten Akt hat sich Bühnenbildner Ralph Myers ein Drinnen-Draußen Szenario einfallen lassen wie wir es von Frank Castorfs sich ewig drehenden Raumarchitekturen her kennen. Mariettas Wohnung ist ein Saustall mit vielen vollen und leeren Löwenbräu Dosen auf den Bücherregalen und am Boden verstreut. Hier wird kindisch Party gefeiert als orgiastische Gegenwelt zur engen Welt Pauls.

Die Tänzerin Marietta ist als eine fahrradstrampelnde lebenslustige Verführerin inmitten eines lebenslustigen Schauspieltrupps zu erleben. Paul als ein schon etwas abgestandener Vorstadt-Neurotiker, schizophren, ein in seinem Wahn bemitleidenswerter und brandgefährlicher Typ zugleich, der irr und wirr mit Perücke und Kleidungsdevotionalien der verstorbenen Marie spielt. In einer Art Rückblende am Ende des ersten Aktes sehen wir Marie nicht als Traumvision, sondern krebskrank und haarlos im Krankenhauskittel, offensichtlich während der Zeit einer Chemotherapie. Die Laute ist hier natürlich keine Laute, sondern das Mikro einer billigen Karaoke-Anlage, in das Marie ihr Lied singt. Die Bühne lässt keinen Raum für fantastische innere Bilder, sondern bleibt sachlich, nüchtern distant. Der Zuseher erlebt eine hybride Reality-Fantasy-Soap mit der sentimental rauschhaften, orchestral dschungeldichten Jugendstilmusik des 23-jährigen Korngold unterlegt. Das Ende der Geschicht: Ein schlechter Traum hat erst einmal den Traum eines freieren Lebens zerstört. Fort aus der Stadt des Todes ist die Losung. Das romantisch ausklingende Orchester lässt die Geschichte freilich offen. 

Jonas Kaufmann und Marlis Petersen schlüpfen mit enormer Intensität in ihre so vom Regisseur vorgezeichneten Rollen. Er beeindruckt in dieser Grenzpartie mit heldisch herbstlicher Attacke bis zum Anschlag, im Dauerforte klingt die Stimme jedoch bisweilen arg forciert. Allerdings ist Korngolds Paul von der Tessitura her so teuflisch und eigentlich unzumutbar hoch wie die gefürchteten Tenorpartien von Richard Strauss. Ähnlich wie beim späten James King in Wien im Dezember 1985, bleiben als Atouts Jonas Kaufmanns luxuriöses baritonales Timbre, die stimmliche Kraft und die Magie einer charismatischen Person.

Petersen erfüllt das Ideal einer Marietta/Marie. Wie Petersen emotionale Wahrhaftigkeit und reiche Stimmfarben, irisierendes Legato und silbern leuchtende Höhen, eine virtuose Körpersprache und fein dosierte Mimik zu einem Gesamtkunstwerk mischt, ist großes Opernglück. 

Andrzej Filonczyk als wenig funkelnder Frank/Fritz, Jennifer Johnston als gestreng bigotte Haushälterin Brigitta, Mirjam Mesak als Juliette, Corinna Scheurle als Lucienne, Manuel Günther als Gaston/Victorin und Dean Power als Graf Albert formen ein quicklebendiges, spielfreudiges Ensemble.

Das künstlerische Hauptereignis der Aufführung liegt allerdings trotz der Top-Besetzung der beiden Hauptrollen beim Bayerischen Staatsorchester unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko. Vielleicht war es ja von Vorteil, dass der probenbesessene Petrenko zu wenig Zeit für das perfekte Ausbuchstabieren zwischen Graben und Bühne hatte. Jedenfalls geraten die fantastischen Vorspiele zum zweiten und dritten Akt zu Sternenglanz orchestraler Kultur. Wie Kirill Petrenko die Musiker insgesamt durch diese wahnwitzig überschäumende Partitur zwischen Filmmusik, gemäßigter Avantgarde und symphonischem Überdruck samt alle Klippen lotst, ist das ganz große Ereignis, das in die Annalen der Bayerischen Staatsoper und der Operngeschichte eingehen wird. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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