Blu-ray/DVD JEAN-PHILIPPE RAMEAU „PLATÉE“ – HD-Aufnahme aus der Opéra national de Paris/Palais Garnier vom Juni 2022; Bel Air Classiques
An der Pariser Oper feierte Rameaus satirische Comédie lyrique (ballet bouffon) „Platée“ im April 1999 in einer genüsslich-sinnlichen Produktion von Laurent Pelly unter der musikalischen Leitung von Marc Minkowski Premiere. Im Februar 2002 wurde dieser Theatercoup filmisch verewigt, mit Paul Agnew, Mireille Delunsch, Doris Lamprecht, Franck Leguérinel, Yann Beuron, Laurent Naouri und Vincent Le Texier in den Hauptrollen. Musik, Gesang, Tanz, Szene, Kostüme, und der bosniglsatt-raffinierte Spott der theatersüffigen Aufführung haben mich sofort mitgerissen. Dazu war die musikalische Liebe auf den ersten quakenden Ton sozusagen. Seither gehört Rameau zu meinen Lieblingskomponisten. Ohne Wenn und Aber.
Über 20 Jahre später nach etlichen Wiederaufnahmen in unterschiedlichen Besetzungen, standen die Kameras abermals bereit für ein Videodokument derselben Inszenierung, die 2024 ihr 25-jähriges Jubiläum feiern wird. Diesmal in high-definition Sound und Bild sowie u.a. mit Lawrence Brownlee als naiv verliebte Fröschin Platée, Julie Fuchs (Thalie und la Folie), Mathias Vidal (Thespis), Marc Mauillon (Momus), Jean Teitgen (Jupiter) und Reinoud Van Mechelen (Mercure). Wieder dirigiert Marc Minkowski seine Les Musiciens du Louvre, diesmal jedoch mit den Choeurs de l’Opéra national de Paris.
Für den Kosmos der französischen Barockoper ist diese Pelly-Inszenierung sowas wie, was Puccini angeht, die zeitlos klassische „La Bohème“ Inszenierung von Zeffirelli oder die Wallmann „Tosca“. Ich hoffe, diese „Platée“ wird auch noch in 25 Jahren zu sehen sein. Denn was Laurent Pelly, Chantal Thomas (Bühnenbild und die grandios witzigen Tier- bzw. Götterkostüme) und nicht zuletzt Laura Scozzi (Choreografie) hier als Vexierspiel von List, menschlichen Schwächen und Eitelkeiten auf die Bühne bringen, ist in ihrer unverschämt-humorigen, als Fabel verpackten Gesellschaftskritik nichts weniger als eine lustvolle Pariser Maskerrad‘. Von Rameau noch als ironisch-moralischer Spiegel mit verstohlenem Blick auf die lächerlichen Spielchen der Aristokratie konzipiert, dürfen sich heute im Reigen aller delirierenden bis ganz normalen Personen des Stücks von der Moral der Geschicht‘ ruhig alle angesprochen fühlen: Hütet Euch vor Selbstüberschätzung und falschen Schmeicheleien, denn wie schon im Alten Testament nachzulesen ist: „Hochmut kommt vor dem Fall.“
Dabei ist unsere Froschnymphe Platée, die sich in ihrer Selbstbezogenheit für so unwiderstehlich anziehend und schön hält, dass sie sich Jupiter würdig fühlt und so der übelsten aller Intrigen auf den Leim geht, ein faszinierend tragisches Wesen. Sie vereint eine Riesenpalette an einander widerstreitenden Emotionen und Motivationen. Platée ist in ihrem aufgeblasenen Narzissmus männerversessen und unverschämt, kokett und charmant, blind und luzide zugleich, „eine Don Quijote der Liebe und Opfer einer andauernden Illusion.“ (Lionel Esparza).
Hat Paul Agnew 2002 überaus gestisch und mimisch reizend das liebenswürdig-sympathische der Figur betont und mit seinem androgynen Tenor eine gewisse Illusion von Glaubwürdigkeit begründen können, so ist Lawrence Brownlee in der Titelrolle ein ganz anderer Fall. Da ist eine resolute Realitätsverweigerin am Werk, die trotz aller Winks mit dem Zaunpfahl bis zum Schluss an ihrer Rolle als Göttervaterbraut festhält. Dennoch darf auch sie unseres edelsten Mitleids am Ende sicher sein, denn die mit sich selbst beschäftigte, blasierte Elite amüsiert sich ganz billig auf Kosten und am Leiden des getäuschten Wesens. Stimmlich ist Brownlee mit seinem kompakten, stilsicheren und dramatischeren Tenor ohnedies eine Wucht.
Die Geschichte (Libretto Adrien-Joseph Le Valois d’Orville nach Jacques Autreau) um sexuelle Untreue und Eifersucht, um schadenfrohe Intrigen und vorauseilenden Gehorsam einer gelangweilten Entourage ihrem Chef gegenüber hat uns noch heute viel zu sagen.
Nach einer durchsoffenen Nacht wollen Momus (Marc Mauillon), Gott des Hohns und die Muse Thalie (Julie Fuchs) mit Unterstützung von Thespis (Mathias Vidal), dem Erfinder des Dramas und Amor (Tamara Bounazou) eine neue Art von Theater erfinden. Da bietet sich gerade an, dass Jupiter (Jean Teitgen) Mercure (Reinoud Van Mechelen) beauftragt hat, ein Mittel zu ersinnen, wie Junon (Adriana Bignani Lesca) von ihrer Eifersucht befreit werden kann. Also heckt der König der Berge Cithéron (Nahuel Di Pierro) für Mercure einen Plan aus: Jupiter soll vortäuschen, in die Froschnymphe Platée vernarrt zu sein und sie heiraten zu wollen. Die eifersüchtige Junon soll im letzten Moment vor dem Jawort dazustoßen und durch die Lächerlichkeit der hässlichen Nebenbuhlerin von ihrer Eifersucht für alle Zeit geheilt sein. Jupiter hätte wieder freie Bahn für Amouröses aller Art.
Das Spektakuläre an dieser philosophischen Oper ist einmal die Musik Rameaus, der alle Register von Gewitter, Froschquaken bis Eselsiahen, die Erfindung der Figur des Wahnsinns (Koloratursopran) als von allen Regeln befreites alter Ego des Komponisten und virtuoseste, ironische Instrumentaleinlagen für Ballette zieht, damit die absurde Show pfeffrig bleibt.
Was die schon legendäre Inszenierung anlangt, so begeistern die überscharf gezeichneten Charaktere, die einfallsreichen Kostüme und die so spitz das Geschehen karikierenden Tänze. Wir staunen amüsiert über ein köstliches Froschballett mit einer kleinen Breakdance Einlage am Ende des ersten Akts, das Herabschweben Jupiters auf einem Theaterlüster mit Esel- und dann Uhukopf, den ballettornamentierten Auftritt der koloraturkichernden La Folie im Notenblattkleid (unbeschreiblich witzig und dreist Julie Fuchs) und über ein hübsches Fröschlein als Muppet bzw. im Orchestergraben irrlichternd. Im dritten Akt tritt Junon mit Flinte auf, eine wunderbare Gelegenheit für Bignani Lesca, die kapriziöse Schreckschraube heraushängen zu lassen, während die Scheinhochzeit flankiert von spöttischen Divertissements flötenbeschwingt näher rückt.
Und wie gefällt der froschlaichgeschmückten Braut das Fest? Die dürfte sich zwar fragen, warum der Gott der Liebe nicht auftaucht und bei den Ehrenrigaudons die Paare aufeinander eindreschen, aber einen Gott kriegt man halt nicht alle Tage, so stirbt die Hoffnung entgegen aller Vorzeichen zuletzt. Nach Aufdeckung des Schwindels ziehen Jupiter und Junon ab, die gedemütigte Platée verschwindet wasserspritzend im Teich.
Marc Minkowski dirigiert Les Musiciens du Louvre vielleicht noch eine Spur elastischer, konziser bzw. artikulationsfreudiger als vor 20 Jahren. Der Schalk sitzt ihm sichtlich im Nacken, wenn la Folie und Dirigent um die musikalische Autorität rangeln oder Herr Frosch Minkowski quick den Taktstock wegnimmt. Die Besetzung ist ohne jegliche Einschränkung fabulös und agiert bestens gelaunt. Die zahllosen parodistischen Gags, nicht zuletzt in den zahlreichen (travestierten) Tanzeinlagen wirken immer noch frisch wie am ersten Tag.
Wer es nicht schon bei der ersten Verfilmung getan hat, sollte jetzt zuschlagen.
Dr. Ingobert Waltenberger