Blu-ray/DVD GAETANO DONIZETTI „PIETRO IL GRANDE, KZAR DELLE RUSSIE“ – Live Mitschnitt vom Donizetti Opera Festival in Bergamo, Teatro Sociale 2019; Dynamic
Zar und Zimmermann: Die deutsche Spieloper rund um eine Inkognito-Reise des Zaren Peter des Großen von Albert Lortzing wurde 1837 in Leipzig aus der Taufe gehoben. Zuvor hatte schon Gaetano Donizetti ebenfalls basierend auf dem französischen Schauspiel „Le bourgmestre de Saardam ou Les deux Pierre“ seine Oper „Il borgomastro di Saardam“ (Libretto Domenico Gilardoni) 1827 für Neapel herausgebracht. Diese Oper wurde 2017 beim Donizetti-Festival in Bergamo aufgeführt.
Historischer Hintergrund der Oper: Im Jahr 1697 reiste der russische Zar Peter der Große incognito nach Zaandam – hier wie in der Schauspielvorlage „Saardam“ genannt – um dort als einfacher Handwerker getarnt vom niederländischen Schiffbau zu lernen.
Die Faszination des Komponisten für Peter den Großen aber hatte Donizetti schon weit früher, wie dies seine zweite Oper „Pietro il Grande, Tzar delle Russie“ beweist. Dieses Melodramma burlesco in zwei Akten basiert auf einem Libretto des Bühnenbildners Gherardo Bevilaqua Aldobrandini, der wiederum auf eine literarische Vorlage von Alexandre Duval, und zwar auf dessen Komödie „Le menusier de Livonie ou Les illustres voyageurs“, zurückgriff. Der 22-jährige Schnellschreiber Donizetti bastelte daraus im Dezember 2019 in nur wenigen Tagen eine Partitur.
Diesmal treibt es den Zaren (Roberto De Candia) aber nicht nach Holland, sondern nach Livland, einer ehemaligen russischen Provinz im Baltikum. Er hat sich mit seiner Frau Caterina (Loriana Castellano) auf die Suche nach deren Bruder/ seinem verschollenen Schwager gemacht. Und weil es Zar Peter der Große ist, tut er auch diese Reise incognito, und zwar als Offizier Menzicoff. Das Herrscherpaar wird schließlich in Carlo Scavronski (Francisco Brito), einem jungen Tischler, als sehnsüchtig Gesuchtem fündig. Doch zuvor muss noch Klarheit über die Herkunft dieses Carlo als auch seine Beziehung zu Annetta (Nina Solodovnikova), der Tochter des Rebellen und russischen Vaterlandsverräters Mazeppa, her. Freilich gibt es auch Nebenschauplätze: Dem schönen Mädel rennen allerlei Männer hinterher, so auch der unsympathische Wucherer Firman-Trombest (Tommaso Barea).
Drahtzieherin der Oper ist jedoch die Wirtin Madam Fritz (Paola Gardina), die fügen kann, was sich nicht fügen will. Sie beschafft die Dokumente, die Carlos Herkunft belegen, sie besänftigt Eifersüchteleien, sie setzt sich für die Freilassung von Carlos, der von Sir Cuccupis (Marco Filippo Romano) vorübergehend arretiert wird, ein. Schließlich verzeiht Peter der Große der kleinen Annetta, weil der schreckliche Vater ja ohnedies schon lange tot ist. Die wiedervereinte Familie macht sich vermehrt um Annetta glücklich und zufrieden auf den Heimweg, freilich nicht bevor Peter seine wahre Identität preisgegeben hat.
Donizetti schrieb seine Musik ganz im Windschatten von Gioacchino Rossini. Der junge Tonsetzer versuchte nicht wie Richard Strauss, der das „Gebirge Wagner“ umgangen hat, sofort einen eigenen Weg einzuschlagen, sondern erklomm mit einigem Geschick zumindest einige steile Abhänge des Rossinischen Apennins. Er war also noch auf musikalischer Identitätssuche. Eine seiner Eingebungen, nämlich das Orchestermotiv des Einleitungschors zur Arie „Bolle in sen di quest‘albergo“ des Magistrats Cuccupis, soll Donizetti später wieder für das Erste Finale seiner Oper ,L‘elisir d‘amore“ verwenden.
Die Produktion, die wir auf dem Video sehen, wurde aus Anlass des 200. Geburtstages der Oper vom Ondadurto Teatro (Marco Paciotti und Lorenzo Pasquali) geschaffen. Eine knallbunte Sache, abgekupfert von den auf geometrische Formen basierenden Gestaltungsideen der russischen Avantgarde der 20-er Jahre. War außer diesen üppigen Anleihen bei Malewitsch, Konstruktivisten und Futuristen sonst noch etwas? Ich sehe den Bezug zu einer Komödie des frühen 19. Jahrhunderts einfach nicht. Die Tatsache, dass Peter der Große ein Reformer war, genügt mir als Hinweis nicht. Und was soll daran witzig sein, wenn im zweiten Akt zu den quietschbunten Billig-Plastikkostümen noch einmal mittels Projektionen ein optischer Overkill an durch den Raum fliegenden Quadraten und sonstigen kaleidoskopartig sich rasant drehenden Formen entsteht und vom Bühnengeschehen ablenkt. Eigentlich haben wir es daher mit keiner dramaturgisch konzipierten Theaterarbeit, sondern einer Allerwelts-Bebilderung mittels einer kitschigen Ausstattung (Kostüm-Design K.B. Project) zu tun, die mit dem Sujet nichts assoziativ Schlüssiges verbindet. Eine Personenregie, die diesen Namen verdiente, ist in dieser überkandidelten Klamotteninszenierung auch nicht auszumachen.
Der Vollständigkeit halber: Es war nicht die erste Inszenierung der Oper im 20. Jahrhundert. 2003 wurde „Pietro il Grande“ zum dreihundertsten Geburtstag der St. Peterburger Oper gespielt.
Die musikalische Seite der Aufführung ist durchwachsen. Die Serie hat Rinaldo Alessandrini zwar mit Schwung und Brio dirigiert. Auch die typischen Steigerungen à la Rossini gelingen vorzüglich. Das Orchestra Gli Originali und der Coro Donizetti Opera (nur Männerstimmen) folgen aber nur pauschal und wenig präzise den Anweisungen. Der Männerchor brüllt sich durch die ohnedies nur 08/15 geschriebenen Chöre. Die Streicher des kleinen Orchesters kratzen eher das Ohr als für einen frischen spritzigen Klang zu sorgen. Die topfig trockene Aufnahmequalität verbessert das Erlebnis auch nicht gerade.
Von der Besetzung ist vor allem die exzellente Mezzosopranistin Paola Gardina als Wirtin Fritz vor den Vorhang zu holen. Mit herb-kräftigem Timbre gelingt ihr ein großartiges Rollenporträt der plietsch cleveren, beim Magistrat auch alle ihre erotischen Verführungskünste in die Waagschale werfenden Frau. Dieser mächtige Beamte Cuccupis wird von Marco Filippo Romano vorzüglich in Szene gesetzt. Sein kräftiger, vom virilen Timbre und perfekter Projektion her exquisiter Kavaliersbariton lässt aufhorchen. Roberto De Candia als Peter der Große wirkt mit großem, samtig ansprechendem Bassbariton, aber nur beiläufig gestalteten Fiorituren, eher väterlich brav denn respekteinflößend. Der Kostümbildner und die Maske haben ihn – ganz in Babyfarben getaucht – besonders hart “drangenommen”. Die Annette der Nina Solodovnikova piept in der Mittellage soubrettenhaft mit federleichter Stimmgebung, in der Höhe wird es unangenehm schrill. Mit der Tessitura und den Spitzentönen ebenfalls überfordert ist der Tenor des Francisco Brito als Bruder der Zarin Catarina.
Warum also soll man sich diesen “Pietro il Grande” trotzdem ansehen/anhören? Dem Jungspund Donizetti gelingen, die schematischen Chören und ebenso flachen Sacco-Rezitativen einmal beiseite gelassen, großartige und meisterlich komische Duette (Peter und Cucuppis, Cucuppis und Wirtin, Wirtin und Carlo) und schwungvolle temporeiche Ensembleszenen. Allerbester Rossini, halt vom Kollegen Donizetti geschrieben. Jeder Belcanto-Freund wird trotzdem jubilieren. Genau aus diesem Grund der umwerfenden musikalischen Qualität einiger Nummern sage ich – Originalität und mittelmäßiges Libretto hin oder her – dieser frühen Donizetti-Oper einen längeren Bestand an Opernbühnen voraus als anderen Ausgrabungen in Bergamo.
Dr. Ingobert Waltenberger