4.10. 2024– Herbsttage Blindenmarkt: MASKE IN BLAU (Premiere)
Vom einstigen „Mekka“ für ihre Verehrer hat man sie per politischem Handstreich zugunsten austauschbarer Konfektionsware verbannt, an der Volksoper darbt sie, von ihren vorgeblichen Neuinterpreten auf stilistische Diät gesetzt, ihrem dramaturgischen Hungertod entgegen. So müssen sich die Liebhaber der Operette in die sogenannte Provinz im Umland von Wien begeben, wenn sie auf hohem Niveau ein paar vergnügliche Stunden erleben wollen. Aktuell rufen die Herbsttage Blindenmarkt bei Ybbs, die sich als Refugium für die andernorts arg zerzauste Kunstform erweisen (von wo aus sie ja vielleicht irgendwann zur Rückeroberung ihrer einstigen Domänen in der Metropole oder am pannonischen Meer aufbrechen wird?).
Im 35. Jahr des kleinen, aber feinen Festivals steht jedenfalls Fred Raymonds „Maske in Blau“ auf dem Programm – zugegebenermaßen ein Spätwerk des Genres (uraufgeführt kurz vor dem 2. Weltkrieg, in Wien überhaupt erst nach dem Krieg erstmals gespielt), das bekannteste aus der Feder des Wahlberliners, dessen Name man heute, wenn überhaupt, nur noch mit einigen Schlagern der Zwischenkriegszeit verbindet. Wie sie verdienen auch die Hits der „Maske“ – „Schau einer schönen Frau nicht zu tief in die Augen“, „Am Rio Negro“ oder „Die Julischka aus Budapest“ – dass man sich an sie ob ihrer ansprechenden Melodien und ihrer ansteckenden Rhythmen, die einem unweigerlich in die Beine fahren, wieder erinnert.
Armando (Clemens Kerschbaumer) und Evelyne (Andreja Zidaric) betrachten das Porträt der „Maske in Blau“ © Lukas Beck
Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet der unermüdliche Michael Garschall mit seinem Team, das aus der vorhersehbaren Geschichte – sie finden sich, sie verlieren sich, sie kriegen sich wieder (wobei ein wertvoller Ring und das Porträt einer geheimnisvollen Maskierten eine Rolle spielen) – mit Professionalität und handwerklicher Perfektion, vor allem aber mit Leidenschaft für die Sache und mit Liebe und Respekt gegenüber den Menschen, für die man spielt, aus vergleichsweise einfachen Mitteln drei kurzweilige Stunden niveauvoller Unterhaltung auf die Bühne zaubert. Das Resultat, soviel sei hier behauptet, würde in exakt dieser Inszenierung und mit exakt dieser Besetzung (orchestral vielleicht den größeren Räumlichkeiten angepasst) auch in der Hauptstadt im Nu zum Publikumsrenner werden.
Freilich, Operette spielt sich nicht „von allein“, sie verträgt auch keine falsch verstandenen kopflastigen Redesigns. In Blindenmarkt weiß man: es kommt darauf an, dass man mit dem, was „da ist“ – freilich ohne plumpe Anbiederung – das Herz des Publikums erreicht. Im Wissen, wie solche Stücke „funktionieren“, und mit einer Nase für gewisse Mechanismen, die, wenn man versteht, sie zu betätigen, absolut „ziehen“: und zwar bei Alt UND Jung, wie an diesem Abend eindrücklich unter Beweis gestellt wird. Ein Hauch italienische Riviera, dazu schwüle südamerikanische Folklore, ausgelassene Junggesellen-Boheme, die Sehnsucht nach der großen Liebe, dazu ein paar heitere Seitenblicke darauf, wie sich die große Liebe im kleinen Alltag bewähren muss. Als Grundlage fungiert die intelligente, witzig-gewitzte Einrichtung des Textbuchs, die aus der Feder von Isabella Gregor stammt, die auch als Regisseurin für die Produktion verantwortlich zeichnet und in jeder Hinsicht unter Beweis stellt, dass sie besagtes Handwerk in jeder Hinsicht versteht. Als besonderes Indiz dafür, wie sorgfältig wurde, seien die detailreich auschoreografierten Umbau-Pausen zwischen den Bildern ins Treffen geführt. Ein echter (und beinahe unerschöpflicher) Hingucker sind auch die Kostüme von Julia Pschedezki, hoch atmosphärisch und zugleich in ihrer Wandelbarkeit beeindruckend die kubistisch angehauchte Bühne von Walter Vogelweider, der nur jeweils wenige Accessoires benötigt, um das Publikum vom Strand in San Remo in den Ballsaal des Marchese Cavalotti und später in den Hof einer argentinischen Hazienda zu entführen.
Gonzala (Elisabeth Engstler) und Kilian (Stefano Bernardin) beim – vergeblichen – Versuch, gemeinsam eine Zeitung zu lesen. Foto: Lukas Beck
Das alles wäre natürlich nichts ohne die Protagonisten, und auch hier erweist sich der Intendant als Impresario mit dem gewissen „Riecher“. Denn eines ist klar: das First Couple würde man derzeit an Wiens erster Operettenbühne wie hier in Blindenmarkt nicht besetzen können. Das gilt allen voran für die Titelpartie, in der Andreja Zidaric zu den Herbsttagen zurückkehrt. Die slowenische Sopranistin feiert ja an sich am Gärtnerplatz im lyrischen Koloraturfach nicht nur in der „leichten Muse“, sondern auch in den großen Opern etwa als Königin der Nacht oder Olympia große Erfolge. Mit diesem „Background“ und dieser Vielseitigkeit darf sie als Idealbesetzung für die Evelyne Valera gelten und berührt auch mit ihrem weichen, samtigen Timbre und gefühlvollem Ausdruck. Dazu kommt ihr attraktives, elegantes Auftreten: eine Operetten-Diva im klassischen, besten Sinn. An ihrer Seite ebenbürtig der Wiener Tenor Clemens Kerschbaumer, der mit tenoralem Schmelz und sicherer Höhe als Armando Cellini begeistert, wenn er auch eher einen italienischen Straßenkünstler darzustellen hat, der mit seiner Angebeteten somit sozial durchaus nicht auf einer Ebene steht.
Angesichts von allem Liebesleid, die die beiden bis zum Happy End zu überwinden haben, wird die Buffo-Ebene bei der „Maske in Blau“ gleich doppelt bedient. Einmal vom jungen Pärchen Joe Fraunhofer und Juliska Varady, die es, man weiß nicht recht, wie, an die Seite der Hauptfiguren verschlägt, und mit denen sie dann – auch geographisch – durch Dick und Dünn gehen. Was der großgewachsene, schlaksige Wiener Lukas Karzel und das zierliche 10.000 Volt Energiebündel Mariella Hofbauer aus Niederösterreich dazu nutzen, um unter anderem mit den alten Rökk-Schlagern und einem ausgesprochenem Bewegungstalent Schwung und gute Laune zu verbreiten und dabei eine vielversprechende Probe ihres jungen Talents abzugeben.
Dann gibt es noch einen Freund des Armando, den Stefano Bernardin als zugleich erfolglosen italienischen Maler und Fischer gestaltet, der einen schusseligen Kampf mit den Tücken der deutschen Sprache führt und dabei mit viel Wortwitz seine Pointen treffsicher durch den Abend jongliert. Ebenso findet sich im Original Evelynes Majordomus, den man zu ihrer etwas schrulligen Vertrauten umfunktioniert hat, als welche die unschlagbare Elisabeth Engstler die amourösen Strippen zieht und die Lacher auf ihrer Seite hat. Schließlich gibt es auch eine Wiederbegegnung mit TV-Legende Dany Siegel im unglaublichen 63. Jahr ihrer Bühnenlaufbahn, die sich gleich in zwei Rollen präsentiert. Neben diesen Publikumsmagneten – deren Engagement in an sich kleinen Rollen natürlich auch zum publikumswirksamen Umgang mit der Operette gehört – bewährten sich auch Georg Kusztrich als knorrig-schauriger Gegenspieler des Liebespaares und Original Stephan Eder als Marchese Cavalotti bzw. Gaucho Carlo.
Ganz hervorragend gelungen schließlich ist auch die Choreographie von Lisa-Maria-Rettenbacher, die ihr Ensemble mit einer Mischung aus Romantik und Humor, Erotik und Akrobatik sowie mit einer Prise Frivolität und Trash (ein besonderer Schlager: das Pferdeballett am Beginn des Argentinien-Bildes) wirkungsvoll in Szene setzte. Das musikalische Fundament aus dem kleinen Graben steuerte das Kammerorchester Ybbsfeld unter der Leitung von Kurt Dlouhy bei und tat unter den gegebenen Voraussetzungen sein Möglichstes – aufgrund der akustischen Rahmenbedingungen hätte, dies gilt insgesamt, etwas elektrische Tontechnik den Effekt des Abends noch einmal verstärkt.
Valentino Hribernig-Körber