26.10.2025: Dernière “Der Schokoladensoldat” bei den Herbsttagen Blindenmarkt – Ein Triumph der Operettenkunst mit Humor und Haltung

Copyright: Lukas Beck
Als George Bernard Shaw 1894 seine Komödie Arms and the Man schrieb, zielte er mitten in die Brust der bürgerlichen Illusion: Den Glauben an den militärischen Helden, an patriotische Pose und romantisierte Schlachtfelder. Oscar Straus erkannte die Sprengkraft dieses Stoffes – und verwandelte ihn 1908 in eine Operette, die mit bezaubernder Musik das entlarvende Lachen schärfte. Mehr als ein Jahrhundert später greift Marcus Ganser in Blindenmarkt diesen Impuls auf – und führt ihn weiter, mit einer künstlerischen Vision, die historisches Bewusstsein mit zeitgenössischer Deutung vereint. Er schenkt der Gattung Operette nicht eine nostalgische Rückschau, sondern eine deutliche Zukunftsansage: Operette ist Denkraum. Operette ist Gegenwart.
Ein Werk, das seine Zeit überholt hat – und deshalb heute ankommt
Shaws Komödie entstand in einer Zeit, in der Nationalstolz und militärische Ehre den politischen Diskurs bestimmten. Doch Shaw stellte den „Helden“ vom Sockel – und Oscar Straus setzte diese Entzauberung musikalisch in Szene. Dass diese Botschaft in Blindenmarkt im Jahr 2025 nicht nur ihre Wirkung bewahrt, sondern an Relevanz gewinnt, ist das Verdienst einer Inszenierung, die sich nicht damit begnügt, Geschichte zu erzählen, sondern sie durch heutige Bilder neu befragt.
Heldentum als Projektion – sichtbar gemacht durch moderne Ästhetik
Ganser stellt den Heldenbegriff ins Zentrum, nicht als These, sondern als szenische Erfahrung. Das Herzstück seiner Regie ist der Videoscreen, auf dem die Handlung in comicartigen Panels aufscheint. Diese Bildsprache ist mehr als ein Effekt – sie offenbart Mechanismen der Mythenbildung. Die Comic-Ästhetik zeigt: Der Held entsteht nicht durch Taten, sondern durch Erzählung. Straus und Shaw hinterfragten den Kriegshelden ihrer Zeit – Ganser zeigt, dass der heutige Held längst medial produziert wird. In dieser Spannung liegt die Aktualität dieser Operette.
Die Kostüme von Anna-Sophie Lienbacher verstärken diesen Eindruck: Sie verweben die historische Epoche mit popkulturellen Anspielungen auf Superheldenmythos und Pop-Art. Die Farben leuchten, die Silhouetten karikieren – und dennoch bewahren sie die Würde des Genres. Es ist genau diese Balance, die die Inszenierung so gelungen macht: Sie nimmt die Operette ernst, indem sie ihr zutraut, über sich hinauszuweisen.
Figuren mit Profil – ein Ensemble in seltener Geschlossenheit
Martin Mairinger verkörpert den Gegenhelden mit entwaffnender Natürlichkeit. Sein Bumerli flüchtet nicht vor dem Feind, sondern vor sinnlosem Tod – und gewinnt gerade dadurch die Sympathie des Publikums. Er ist nicht der strahlende Sieger, sondern der menschliche Held. Mit warmem Timbre und präziser Textgestaltung zeigt Mairinger, warum dieser Typus Heldentum die Operette heute so zeitgemäß erscheinen lässt.
Stöckelle lässt ihre Nadina einen inneren Weg zurücklegen – von der bewundernden Kriegsromantikerin zur selbstbestimmten Frau. Ihr Sopran gleitet mühelos über die Höhen, ihr Spiel balanciert Witz und Emotion. Sie schenkt der Figur Tiefe, ohne den Charme preiszugeben.
Lukas Johan gestaltet den Major Alexius Spiridoff als selbstverliebten Einfaltspinsel – grandios überzeichnet, ohne platt zu werden. Er ist das Gegenbild zu Bumerli: Pose gegen Persönlichkeit, Eitelkeit gegen Menschlichkeit. Seine Spielintelligenz bringt das satirische Element zum Funkeln.
Der Kasimir Popoff von Georg Kusztrich trifft den Ton eines bürgerlichen Pazifisten mit trockenem Humor und souveränem Timing. Jede seiner Szenen löst Heiterkeit aus – aber nie auf Kosten der Figur. Er verleiht Popoff jene stille Größe, die zeigt: Vernunft kann ebenso wirkungsvoll sein wie Pathos.
Jasmin Bilek bringt als Mascha Schwung, Charme und sinnliche Spielfreude ein. Christina Ratzenböck verankert als Aurelia Popoff die Operette mit menschlicher Tiefe. Zusammen mit Christian Mayr als Massakroff entsteht ein Ensembleprofil, das den Geist von Straus’ Musiktheater vollkommen trägt.

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Bühne, Bewegung, Musik – drei Ebenen, ein Atem
Die Bühne von Ganser ist reduziert und zugleich bedeutungsreich. Der Videoscreen wirkt wie ein Fenster in die kollektive Vorstellungskraft: Was wir sehen, ist nicht die Realität, sondern ihre Interpretation. Die Drehbühne sorgt für Bewegung, die Choreografien von Lisa-Marie Rettenbacher für rhythmische Leichtigkeit. Sie lassen das Ensemble atmen – und das Publikum mit ihm.
Unter der musikalischen Leitung von Thomas Böttcher entfaltet das Kammerorchester Ybbsfeld die Partitur mit Eleganz und innerer Spannung. Walzer, Marsch, Couplet – alles erhält Profil, nichts gerät zur Routine. Besonders beeindruckend ist die Transparenz des Klanges, die den feinen Humor Straus’ hörbar macht. Die Musik kommentiert nicht nur – sie verbindet.
Ein Abend, der bleibt
Es gibt Inszenierungen, die gefallen. Und es gibt jene seltenen Abende, an denen ein Werk plötzlich größer erscheint, als man es in Erinnerung hatte. Blindenmarkt ist dies gelungen. Diese Aufführung führt vor, wozu Operette in der Lage ist, wenn man ihr nicht bloß Nostalgie, sondern Gegenwärtigkeit zutraut.
Laurenz Rogi

