Blindenmarkter Herbsttage – Boccaccio – 7. Oktober 2016
Neues Festspielhaus für Blindenmarkt mit Franz von Suppés „Boccaccio“ – blendend inszeniert und toll gesungen
Alexander Kaimbacher. Copyright: Lukas Beck
„Sie hab’n a Haus baut“ des vielseitig erfolgreichen Malers Arik Brauer wurde am Freitag in der neu erbauten Blindenmarkter Ybbsfeldhalle zur neuen Hymne der Region: 26 Jahre hatten sich die Blindenmarkter Herbsttage unter dem rundum erfolgreichen heimischen Intendanten Michael Garschall mit Riesenerfolgen und hunderprozentiger Auslastung als Operettenmetropole mit einer stets optimal adaptierten, im Grunde kaum geeigneten Turnhalle herumgeschlagen. Nun ist es endlich soweit. Die gesamte Region des Ybbstales, sämtliche Bürgermeister, der Anhängerverein unter Leitung der bewundernswerten Industriellen Hilde Umdasch, vor allem aber die nö. Landesregierung haben – und das über alle Parteigrenzen hinweg – das Wunder geschaffen: ein Festspielhaus mit optimalen Bedingungen für die Künstler und die Besucher. Dazu gibt es einen weiteren Vorteil: Die Halle steht für Kultur- und Sportvereine zur Verfügung, das Ybbstal hat einen Mittelpunkt mit dem Schwerpunkt Blindenmarkter Herbsttage. Alle Redner des Eröffnungsaktes, der von einem trefflichen Bläserquintett umrahmt war, zeigten Freude, ebenso das p.t. Publikum, das sich ebenfalls in unübertrefflicher Festlaune präsentierte. Patronanz über Sessel sind übrigens noch zu haben….
Der Taumel war aber auch ohne dieses Ereignis berechtigt. Michael Garschall, der Meister im Engagement bedeutender Chöre und Orchester, hat mit Franz von Suppés selten gespielter Operette „Boccaccio“ wahrlich einen Haupttreffer gelandet. Dabei handelt es sich um den Gegenpol zu dem Franzosen Jaques Offenbach, Franz von Suppé, um einen in Dalmatien geborenen Musiker, der durch zahlreiche Bühnenmusiken (etwa „Dichter und Bauer“) bekannt wurde. Die Handlung ist ein wenig kompliziert. Sie war es schon durch das Originallibretto der auch für Johann Strauss arbeitenden Friedrich Zell (Camillo Walzel) und Richard Genee. Isabella Gregor entwarf nun für die Ybbsfeldhalle eine neue Fassung, die sich auf eine Konzentration der ausufernden Dialoge sowie eine Vermehrung der aktionsmäßigen Turbulenzen konzentrierte. Die Schwierigkeit des Verständnisses liegt in den verschiedenen Zeitebenen. Die Geschichten aus Boccaccios „Decamerone“ beziehen sich naturgemäß auf das 14. Jahrhundert. Die Librettisten wählten präzise das Jahr 1331. Gregor beließ zwar Florenz als Ort, in dem alle drei Akte spielen, verlegte allerdings die Handlung in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, eine Idee, die sie in einem Filmdreh als Prolog zum ersten Akt andeutet. Somit stammen auch die Kostüme nicht aus der Zeit Boccaccios, sondern vom Beginn wilder Jahre, wie sie die älteren Operettenfans noch im Gedächtnis haben. Das Konzept Gregors geht schon deshalb auf, weil sich die Ausstatterin Ilona Glöckel nicht mit historischen Darstellungen, sondern mit überall aufzufindenden Kostümen beschäftigen konnte. Diese sind von vielen lustigen Accessoires begleitet, die Sänger-Darsteller tragen sie offensichtlich mit Freude. Hand in Hand mit der Dialog- und Bewegungsarbeit der Regisseurin geht die Choreographie von Monica I. Rusu-Radman, der es nun ebenso geht wie ihren Kollegen beim Lehár-Festival Bad Ischl: Es wird kein Ballett mehr engagiert, die immer besser werdenden Multitalente des Chores übernehmen die Agenden der Tänzer. Die Bewegungschoreographie des Ensembles wird immer wichtiger.
Was wäre aber die Optik, wären in Blindenmarkt, wie seit 27 Jahren üblich, die musikalischen Leistungen nicht überragend. Die Grundlagen liegen im bereits erwähnten Chor, naturgemäß aber auch beim Kammerorchester Ybbsfeld. Musikchef Kurt Dlouhy schwärmte bereits vor der Premiere von der unvergleichlich schönen Musik Suppés. Diese konnte er in seiner gesamten Vielfalt mit dem Orchester unter optimalem Eingehen auf die Sänger beweisen. Dlouhy und das Orchester hatten natürlich andere Voraussetzungen als die Jahre vorher. Der Orchestergraben ergab andere, nämlich bessere akustische Möglichkeiten, von denen die aufmerksam begleiteten Sänger und das endlich auf bequemen Sitzen lauschende Publikum profitieren.
Die Sänger werden natürlich vom Titelrollenträger angeführt: Alexander Kaimbacher, tatsächlich der Typ der bis heute nicht beendeten fünfziger Jahre, ist wirklich ein zeitloser Boccaccio. Ob 1331, 1955 oder 2016: egal. Eigentlich dürfte der Tenor der Extraklasse gar nicht auf der Bühne stehen, hat doch Franz von Suppé diese Partie einer Altistin zugedacht. Musikalisch wäre dies jederzeit in Ordnung, ob man aber heute einer noch so adretten Dame in Hosen diesen Tausendsassa abnähme, bleibe dahingestellt. Wir erleben demnach einen virilen Feschak, der sich fallweise, immer dann wenn sich das Gefühl der Liebe einstellt, selbst zurücknehmen kann, um im nächsten Moment im Verein mit seinen oberflächlich-aktiven Kumpeln wieder voll aus sich herauszugehen: eine Meisterleistung, in der ihm die attraktiven Draufgänger Anton Graner als Prinz Pietro von Palermo und Sebastian Huppmann als gutmütiger Student Leonetto kaum nachstehen.
Von den drei biederen Florentiner Handwerkern, deren Gattinnen in einer moralischen Scheinwelt gerne fremd gehen, hat Markus Ganser als versoffener Fassbinder Lotheringhi die besten Möglichkeiten zur Entfaltung; diese nützt er sehr komödiantisch ebenso wie der heimische Publikumsliebling Willi Narowetz als Gewürzkrämer Lambertuccio. Er zieht sich diesmal auf diskretere, stille Komödienebene zurück. Daniel Serafin, dessen Vater Harald als Blindenmarkt-Neuling im Publikum gesichtet und gefeiert wurde, hat in der undankbaren Partie des Barbiers Scalza wenige Möglichkeiten zur Aktion, ist aber mit seinem lyrischen Bariton einer der Sympathieträger.
Attraktive, immer nach Abenteuern dürstende Sängerinnen sind Anete Liepina als Beatrice Scalza und Kerstin Eder als Isabella Lotheringhi: eine Freude für eifrige junge Boccaccio-Anhänger und das Publikum. Den Höhepunkt an punktgenauer Komödiantik freilich erreicht einmal mehr Multitalent Gabriele Schuchter als geile Peronella Lambertuccio. Wie sie das Scheinangebot des Studenten Leonetto aufnimmt, wie sie ihn als ältlich-leidenschaftliche Frau in die Sexfalle gleiten lässt, muss man einfach sehen. Da Gabriele Schuchter wenig zu singen hat, behilft sie sich auf dem Wege zum Sexabenteuer mit ihren berühmten Radschlägen, diesmal sind es gar drei!
Bleibt von den Hauptdarstellern die bezaubernde Mazedonierin Milena Arovska zu erwähnen: blendendes Aussehen und ein wenig zum Manierismus neigender Charme verbinden sich mit einer hübschen, noch im Wachstum befindlichen Sopranstimme. Alleine die Fähigkeit, Kostüme zum Herzeigen zu tragen, ist sehenswert. Sie bekommt als Ziehtochter der Lambertuccios und Tochter des Herzogs schließlich nicht den Prinzen von Palermo, der weiter ein flottes Leben führen will, sondern keinen Geringeren als Boccaccio, der sein Leben monogam fortsetzen möchte.
Christiana Bruckner und Heiner Müller sind Lokalmatadore seit Beginn der Herbsttage, die ohne sie kaum denkbar sind: Chargendarsteller vom Feinsten. Robert Kolar gefällt in fünf Rollen, Thomas Reisinger, Michael Mayer und Angelika Ratej ergänzen persönlichkeitsstark das Ensemble. Als Studentengruppe bevölkern n
och Barbara Castka, Masengu Kanyinda, Josef F. Ertl und Philipp Fichtner das lebenslustige Florenz der fünfziger Jahre. Ach ja: Da gibt es noch einen kleinen Hund, der sich von Daniel Jeroma als Marionette geführt, in vielen Szenen komödiantisch einmischt.
Die Premierenfeier fand diesmal vor Publikum im Saale statt. Alle waren letztlich begeistert: Politiker, Sponsoren, Zuseher und die Künstler in einem neuen Heim, das sie bereits nach der Premiere in ihr Herz geschlossen haben.
Ingo Rickl
MERKEROnline
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