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BIETIGHEIM/BISSINGEN/ Kronenzentrum: DIE STADT DER BLINDEN von José Saramago (mit dem Landestheater Württemberg-Hohenzollern)

24.02.2022 | Theater

„Die Stadt der Blinden“ nach Jose Saramago mit dem Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen am 23.2.2022 im Kronenzentrum/BIETIGHEIM-BISSINGEN

tm 23 02 2022 die stadt der blinden © peter engel

Copyright: Peter Engel

Kritik an Moral und Gesellschaft

Auf einmal ändert sich alles. Ein Mann erblindet plötzlich auf der Straße. Kurze Zeit später der, der ihn nach Hause brachte und sein Auto stahl. Ein Teufelskreislauf, der mit der aktuellen Corona-Pandemie durchaus vergleichbar ist. Und eine junge Frau erleidet in einem Hotelzimmer das gleiche Schicksal. Es gilt das fatale Motto: „Unter den Blinden ist der Einäugige König“. So geht es ebenso der Frau eines Augenarztes, die sich plötzlich in einer Blinden-Pandemie wiederfindet. In der auf dunkle Effekte den Schwerpunkt legenden Inszenierung von Dominik Günther (Bühne und Kostüme: Sandra Fox) sieht man hinter einem milchfarbenen Vorhang Menschen, die allesamt auf rätselhafte Weise erblinden. Die Frau des Augenarztes wird gemeinsam mit ihm, dem Patienten Null und dessen Frau, einem „hilfsbereiten“ Autodieb, einer Prostituierten und einem kleinen Jungen in einer Nervenklinik unter Quarantäne gestellt. In der Klinik herrschen bald Zustände wie im Krieg: Hunger, Gewalt, Dreck. Die Regierung handelt schnell und überaus hart. Alle Blinden werden „zur Isolation“ einfach weggesperrt. Schnell füllen sich dort die Säle mit immer mehr Blinden – und die Zustände in der Klinik werden immer schlimmer.  Hier steigert sich auch der dramaturgische Spannungsbogen dieser Inszenierung ganz erheblich. Einzig die Frau des Augenarztes, die ihre Blindheit nur vorgetäuscht hat, um bei ihrem Mann bleiben zu können, kann weiterhin sehen und versucht das Schlimmste zu verhindern. Doch auch sie ist machtlos gegen die allgemeinde Verrohung.

Musik und Sounddesign von  Jörg Wockenfuß unterstreichen den suggestiven Charakter dieses Stücks nach dem Roman des portugiesischen Nobelpreisträgers Jose Saramago, der alles aus kommunistischer und atheistischer Sicht sieht. Trotz allem spielen hier auch religiöse Fragen eine Rolle, denn es geht um das Erblinden der ganzen  Gesellschaft. Die Sprache wirkt hier oftmals metaphorisch überhöht, soziale Strukturen werden bloßgestellt. Saramago sagt selbst: „Ich habe nichts gegen die Hoffnung, aber die Ungeduld ist mir lieber.“ So gestehen sich die Menschen auch bald ein, dass sie isoliert sind. Die Zustände werden immer unerträglicher. „Es ist Platz für alle da!“ verkünden die Behörden, obwohl das nicht stimmt. Daran ändern auch Polizeieinsätze nichts. Grelles Licht erhellt den Saal, um dann wieder gespenstischer Dunkelheit Platz zu machen. Babylonisches Stimmengewirr treibt die Situation auf einen beklemmenden Höhepunkt zu. Es folgt eine unheimliche Apokalypse: „Nun beginnt die versprochene Hölle…“ Eine Frau wird von einem Mann sexuell belästigt, dieser Mann wird schließlich auf offener Bühne erschossen. Da ist von einem „armen Kerl“ die Rede. Es kommt zuletzt zu einem gnadenlosen Verteilungskampf. Eine gewalttätige Gruppe blinder Männer stellt Forderungen nach Frauen, die letztendlich auch erfüllt werden. Es kommt zu Vergewaltigungen. Die gegensätzlichen Genres von Saramagos Roman werden in Dominik Günthers subtiler Inszenierung nicht verlegnet. Dem Zuschauer wird es aufgrund der Verhüllungen auf der Bühne aber auch schwer gemacht, klar zu sehen und die Handlung zu überschauen. So gewinnt diese Parabel über die Menschheit als Endzeiterzählung immer wieder deutliche Strukturen. Die Protagonisten verlieren mit dem Augenlicht auch ihre Freiheit. Die Suche nach Gut und Böse bleibt im Trüben.

Die Darsteller folgen dieser Intention punktgenau – allen voran Susanne Weckerle als Frau des Augenarztes. Andreas Guglielmetti als Augenarzt, Dennis Junge als der erste Blinde, Jennifer Kornprobst als Ehefrau des ersten Blinden, Hannah Jaitner als junge Frau mit der Sonnenbrille sowie Gilbert Mieroph als Dieb und der Alte mit der Augenklappe zeigen allesamt starke darstellerische Präsenz. In diesem Stück werden Ungerechtigkeit und Willkür scharf angeprangert, was auch Dominik Günthers Inzenierung unterstreicht. Es gibt nicht viele szenische Schwachstellen, die meisten Passagen und Sequenzen werden plausibel und nachvollziehbar umgesetzt. Auch das Bankensystem bricht schließlich zusammen. Die poetische und in ihrer Wucht direkte Sprache Saramagos verdichtet sich bei dieser Inszenierung stellenweise durchaus eindrucksvoll. Egoismus, Überlebensinstinkt und Solidarität wechseln sich zwar ab, es gibt aber keine eindeutige Zuordnung. „Ich glaube nicht, dass wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind. Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen“, lautet die Moral. Die Werkstatt wird hier zum Quarantänelager. Die milchige Folie, durch welche die Zuschauer auf das Geschehen blicken, verwischt Mimik und Tiefenschärfe. Die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie drängen sich angesichts dieses Stückes ebenfalls deutlich auf:  „Die Würde hat keinen Preis.“ Im Lager kommt es zu Feuerausbrüchen, die Soldaten erblinden ebenfalls und verschwinden. „Jetzt sind endlich alle blind„, heißt es am Schluss. Es gibt kein Wasser, keinen Strom. „Warum sind wir erblindet?“ fragen sich die Menschen. Darauf gibt es im Stück keine Antwort.

Alexander Walther

 

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