Daniel Pataky (Orpheus) und Cornelie Isenbürger. Foto: Bettina Stoess
BIELEFELD/Stadttheater: „ORPHEUS IN DER UNTERWELT“ von Jaques Offenbach
Orpheus spielt Geige
4.7. 2019 – Karl Masek (Premiere: 7.6.2019)
Eurydike langweilt sich in ihrer Ehe mit dem Geiger Orpheus zu Tode. Das Spiel des biederen Musikers in dem spießigen, ärmellosen, erdbraunen Pullover nervt sie maßlos – dabei spielt er doch so schön, dass es selbst Steine erweichen könnte! Tatsächlich: der ungarische Tenor Daniel Pataky (tenoral köstlich frühalt und ein perfekter Langeweiler mit Mutterkomplex) beherrscht das Streichinstrument virtuos! Der ungarische Akzent wird gekonnt für des Musikers larmoyante Art eingesetzt. Orpheus’ Mama (von wuchtiger Bühnenpräsenz: Orsolya Ercsényi als schrille, penetrante Schreckschraube), die ihrem Sohn das Eheleben auf Erden zur Hölle macht, tut das Ihrige. Der hübsche nachbarliche Hirte, in den sich Eurydike verguckt, „Aristeus“, ist in Wahrheit der Gott der Unterwelt, Pluto, der Eurydike mit ins Jenseits befördern wird – um seinem ungleichen Bruder, Jupiter und dessen Seitensprung-Bereitschaft eins auszuwischen. Die Inszenierung von Nadja Loschky, ab der Saison 2019/20 übernimmt sie die künstlerische Gesamtleitung des Musiktheaters in Bielefeld, nimmt turbulent Fahrt auf…
Zwei Treppen gibt es auf der Bühne zu sehen. Im Zentrum ein Lift, der die Protagonisten mal willig, mal pannenverzögert – wie die Deutsche Bahn – befördert. Die „Erde“ ist sozusagen der Bahnknotenpunkt – in erdbrauner Kolorierung so ziemlich alles von der Einrichtung bis zu den Kostümen (Timo Dentler, Okarina Peter). Von dort aus führen sie hinauf auf den Olymp (hier dominiert die Farbe himmelblau), aber auch in die Unterwelt (logischerweise feuerrot gehalten). Der Lichtmeister Ralf Scholz leistet ganze Arbeit. Wie bei Komödien üblich: viele Türen, welche die nötigen Auftritte und Abgänge erlauben. Das Komödienkarussell dreht sich Schwindel erregend. Man merkt rasch: Eine auch handwerklich gekonnte Arbeit.
Nadja Loschky hat gemeinsam mit der Dramaturgin Anne Christine Oppermann (profund, kurzweilig und launig schon ihr Einführungsvortrag!) und dem Dirigenten Gregor Rot eine eigene Textfassung erstellt. Etwaige Befürchtungen im Vorfeld, zu viele Sprachköche könnten da den Librettobrei verdorben haben, erwiesen sich als haltlos. Es ist eine witzige, spritzige, in Maßen frivole Textfassung in heutiger Sprache mit aktuellen, zeitkritischen Andeutungen, wie das auch Jaques Offenbach und seine damaligen Librettisten, Hector Crémieux und Ludovic Halévy, praktiziert haben. Durchaus schnoddrig die Pointen, die Sprache hat Tempo und lockere, unverkrampfte Reimfreude. Viele Lacher aus dem Publikum, punktgenau, was beweist, dass an den gesprochenen Dialogen sehr genau gearbeitet wurde.
Alexander Kaimbacher,Thomas Wolff (Styx), Cornelie Isenbürger (Eurydike) und Lorin Wey (Pluto). Foto: Bettina Stoess
Die ganze Aufführung hat Tempo und ist geprägt von der überbordenden Spielfreude des gesamten Ensembles. Offenbachs Götter-Verulkung spielt sich mit viel Sinn für Pointen und Slapstick ab, ganz bewusst gibt es die Nähe zur Staccato-Komik in den Schwänken des Georges Feydeaux.
Die Musik des ewigjungen 200ers Offenbach besticht durch erfrischenden Schwung, die nötige Portion parodistischer Frechheit sowie effektbewusstes Draufgängertum. „Offenbachs sezierend genauer Blick zeigt die Zeitlosigkeit auf von menschlichen Sehnsüchten, Machtverhältnissen und Doppelmoral… von der Antike bis zur Gegenwart … Nichts beweist die bürgerliche Doppelmoral besser, als dass sich der Erfolg von Offenbachs Operette erst einstellte, nachdem ein Kritiker sich bitterlich über deren Lasterhaftigkeit beklagte…“, so die Dramaturgie des Stadttheaters.
Schließlich zur Detailkritik. Der Abend ist ein Volltreffer mit großem Spaßfaktor. Am 4. Abend in dieser Inszenierung lief alles wie am Schnürchen, und das Ensemble wurde nicht einmal durch störende Nebengeräusche (man glaubte sogar zuerst, das würde zum Höllengeräusch-Repertoire gehören!) irritiert. Die Rolle des Styx bekam aufgewerteter Weise vieles von der ‚Öffentlichen Meinung‘ dazu. Der Bielefelder Publikumsliebling Thomas Wolff philosophierte, räsonierte, kommentierte mit Raffinement und Karl-Kraus’schem Zynismus. Cornelie Isenbürger war bis in die Haarspitzen und in allen sängerischen Nuancen die ewig frustrierte Eurydike (weil auch in der Unterwelt wird ihr rasch fad). Die gelangweilten Götter unterhielten mit feinem Sprachwitz (Nienke Otten, Nohad Becker) als besonders komisches Talent erwies sich der japanische Bassbariton Yoshiaki Kimura als Cupido mit dem running gag: „Auf japanisch heißt das…“: mit muttersprachlicher Suada. Köstlich die beiden Paketboten (aus dem Bielefelder Opernchor – Vladimir Lortkipanidze, Dumitru-Bogdan Sandu) mit einerTanzeinlage in pinken Tutus, die selbst die legendären Ballettparodien des Otto Schenk locker übertraf.
Cupito (Yoshiki Kimura) und Jupiter (Alexander Kaimbacher). Foto: Bettina Stoess
Den Vogel schossen jedoch die ungleichen Brüder Jupiter und Pluto ab. Bei dieser Bielefeld- Wien – Connection blieb kein Auge trocken. Alexander Kaimbacher war der idealtypische Obergott Jupiter. Leichtfüßig, zugleich gravitätisch, auftrumpfend, zugleich entscheidungsschwach (mit Austriazismen: „Na, i weiiiß net, ob…“), majestätisch, zugleich lächerlich, unter der Fuchtel seiner Ehefrau Juno (zänkisch: Katja Brenner), dementsprechend ziemlich kreativ in seiner „Notgeilheit“. In den Verkleidungsszenen mit Lust am Klamauk. Und schließlich Lorin Wey als furioser Höllenfürst und Gott der Unterwelt mit geschmeidiger Bewegungskunst, ebenbürtiger Stimmbeherrschung bis hin zum höllischen Gekicher in höchstem Falsett. Ein listiger „Wolf im Schafpelz“. Die beiden schenkten einander nichts!
Noch ein Wiener Beitrag: Gregor Rot am Pult der Bielefelder Philharmoniker. Sie kamen alle, die leichtfüßigen Feinheiten. Bis zum abschließenden „Galopp infernale“ (bis heute als Can Can bezeichnet). In Loschkys Führung ist es eine infernalische Raufszene. Die Assoziation mit Wagners Prügelfuge aus den Meistersingern ist gar nicht so abwegig.
Ein toller Erfolg. Die Aufführungen sind ausverkauft. Eine Wiederaufnahme in der nächsten Saison gibt es ab 5. Oktober 2019 (fünf Vorstellungen). Karten sichern, meint der Gast aus Wien.
Karl Masek