Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BIEL/ SOLOTHURN/ Schweiz: TANCREDI – Ein erfolgreiches Plädoyer für Rossinis erste Opera seria

01.10.2022 | Oper international

Gioacchino Rossini: Tancredi • Theater Orchester Biel Solothurn, Stadttheater Solothurn • Premiere in Solothurn: 29.09.2022

(3. Vorstellung • Premiere am 16.09.2022)

 Ko-Produktion mit der Opéra Rouen de Normandie

Ein erfolgreiches Plädoyer für Rossinis erste Opera seria

Endlich ist wieder ein ernstes Werk des Meisters aus Pesaro auf einer Schweizer Bühne zu erleben. Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) startet mit «Tancredi» mit grossem Erfolg in die neue Saison.

bie2

Im deutschen Sprachraum und ausserhalb einschlägiger Zentren der Rossini-Pflege wird das Schaffen des Meisters noch immer weitgehend mit komischen Werken gleichgesetzt. In der Schweiz sind in dieser Saison gleich zwei ernste Werke des Meisters – und Meilensteine der Musikgeschichte – auf der Bühne zu erleben: «Tancredi», der 1813 das Rossini-Fieber auslöste, und «Guillaume Tell», nach dem 1829 die Umstände der Zeit (und nicht der Komponist selbst) die Karriere Rossinis beendeten.

Die Scrittura zur Opera seria der Karnevalsspielzeit 1812/1813 am Fenice in Venedig war ein grosse Chance in der noch jungen Karriere Rossinis. Und er nutzte sie, indem er sich an die Konvention anpasste und diese zugleich von innen heraus erneuerte. In seiner für ihre Zeit neuen Melodiesprache wurde die Kunstfiguren zum integralen Bestandteil der Melodie und die menschliche Stimme so kunstvoll eingesetzt, dass sie sich ungestört und nach rein musikalischen Gesichtspunkten entwickeln konnte. Durch die Ausweitung der musikalischen Szene und der Entsprechung von Handlung und Musik schuf er ein Gleichgewicht ungefährdet von jähen Ausbrüchen der Leidenschaft jeglicher Art. In Kombination mit dem empfindsamen Ansatz gelang ihm so die Überwindung der Konvention, ihre Erneuerung von innen heraus. Das Crescendo wird zum musikalischen Äquivalent der szenischen Spannung. Das Melodramma eroico wurde am 6. Februar im Teatro La Fenice uraufgeführt. Für Aufführungen in der Fastenzeit in Ferrara ging Rossini über die Konvention hinaus und schuf ein Ende mit tragischem Ausgang (diese Fassung wird gespielt). Das Libretto stammt von Gaetano Rossi und hat die Tragödie «Tancrède» (1760) von Voltaire zur Vorlage. Voltaire hat die Namen Tancrède (Tancredi) und Aménaïde (Amenaìde) Torquato Tassos «Gerusalemme liberata» entliehen. Den Gang der Handlung, die um das Jahr 1005 in Syrakus spielt, ist frei erfunden.

Pierre-Emmanuel Rousseau (Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme) betont die Zeitlosigkeit von «Tancredi» als universeller Erzählung und betont die seelischen Verletzungen von Soldaten im Krieg. Als Hintergrund wählt er dazu ein stilisiertes Mittelalter und umgeht so die Versuchung, die Geschichte szenisch zu aktualisieren. Die weitgehend dunkle, aber szenisch höchst ästhetische Bühne nimmt den Werk etwas von der Bukolik, wahrt aber den Charakter des Werks. Geht der Vorhang hoch, verziehen sich die letzten Wolken der Schlacht und Soldaten und ein totes Pferd werden sichtbar. Trotz Brustpanzern und Kettenhemden kann der Zuschauer problemlos die Verbindung zur Gegenwart ziehen – wenn er will. Die Lichtgestaltung von Samuele D’Amico trägt ganz wesentlich zur eindrücklichen Szene bei. In diesem Rahmen zeichnet Rousseau Tancredi ähnlich Lohengrin als geheimnisvollen Einzelkämpfer, traumatisiert durch den frühen, gewaltsamen Verlust des Vaters. Tancredi leidet an einer Mischung aus Schizophrenie und bipolarer Störung, einem hohen Gewaltpotential und vor allem einer Unfähigkeit Empathie zu empfinden, die so weit geht, dass er den Liebesbrief der eigenen Geliebten nicht erkennt. Konsequenterweise liebt Tancredi egozentriert – ähnlich dem mittelalterlichen Minnesänger – die Idee verliebt zu sein und nicht eine konkrete Person.

Orbazzano mangelt es wie Tancredi an Empathie. Für ihn scheint die Heirat ein Teil des mittelalterlichen (und durchaus auch noch neuzeitlichen) Machtmechanismus zu sein: man heiratet nicht zwingend, wen man liebt, und man liebt nicht zwingend, wen man heiratet. Argirio wirkt in seiner Zerrissenheit zwischen Pflicht und Neigung wie ein Vorläufer Verdischer Vaterfiguren. Amenaìde ist in einer Welt mit omnipräsentem Tod (und der Kirche als dessen Verwalter) die einzige Figur mit positiven Energien. Als Revoluzzerin, die sich gegen den Vater wie die Zwangsheirat wehrt, trägt sie rote Haare. Ob sie zwingend ein Kind von Tancredi erwarten muss, um in dieser Welt zu existieren, wäre noch zu diskutieren.

bie1
Photo © Suzanne Schwiertz

Candida Guida gibt mit ihrem eleganten, leicht angedunkelten Mezzosopran virtuos die Hosenrolle des Tancredi. Die Zeichnung des schwierigen Charakters gelingt ihr bestens. Lara Lagni leiht der Amenaìde ihren ebenso virtuosen, glockenreinen Sopran. In den Duetten harmonieren die beiden Stimmen prächtig. Die Entdeckung des Abends ist der Tenor Remy Burnens als Argirio. Je höher die Tessitura, je grösser die geforderte Virtuosität, desto wohler scheint er sich zu fühlen. Die Höhen kommen strahlend, kraftvoll, sicher und virtuos. Nicht minder beeindruckend ist Jean-Philippe Mc Clish als mit herrlich frischem Bass als Orbazzano. Annina Haug als Isaura und Konstantin Nazlamov als Roggiero ergänzen das Ensemble. Der Chor von Theater Orchester Biel Solothurn (Chorleitung:  Valentin Vassilev) gibt sich redlich Mühe, scheint aber noch nicht ganz aus der Sommerpause wieder da zu sein.

Das Sinfonieorchester Biel Solothurn unter musikalische Leitung von Benjamin Pionnier bringt Rossinis frühes Meisterwerk mit viel Spielfreude und Leidenschaft zu Gehör. Die Lautstärke wird sich noch einpendeln.

Ein erfolgreiches Plädoyer für Rossinis erste Opera seria!

Aufführungsdaten Biel:

So. 09.10.2022, 15:00; Di. 11.10.2022, 19:30; Mi. 02.11.2022, 19:30; Fr. 04.11.2022, 19:30;

Do. 10.11.2022, 19:30; Di. 22.11.2022, 19:30; So. 22.01.2023, 17:00.

Aufführungsdaten Solothurn:

Sa. 01.10.2022, 19:00; Mi. 12.10.2022, 19:30; Fr. 14.10.2022, 19:30; Mi. 30.11.2022, 19:30.

Auswärtige Vorstellungen:

Sa. 22.10.2022, 19:30, Stadttheater Langenthal; Do. 27.10.2022, 19:30, Casino Theater Burgdorf;

Fr. 25.11.2022, 19:30, Kultur im Podium Düdingen; Mi. 25.01.2023, 19:00, Theater Winterthur;

Fr. 27.01.2023, 19:00, Theater Winterthur; Sa. 28.01.2023, 19:00, Theater Winterthur.

 

30.09.2022, Jan Krobot/Zürich

 

Diese Seite drucken