Vincenzo Bellini: I Capuleti e I Montecchi • Theater Orchester Biel Solothurn, Nebia Biel • Premiere: 05.11.2021
Antikes Theater, das die Grenzen des persönlichen Leidens und die Extreme der menschlichen Psyche auslotet
Mit Bellinis Frühwerk ist dem TOBS wieder ein grosser Wurf gelungen. Hochkarätige Sänger, ein phantastisches Orchester und eine gleichermassen musikalische wie durchdachte Regie: hier stimmt einfach alles!
Foto © Suzanne Schwiertz
Regisseur Yves Lenoir beschreibt seine Inszenierung zusammenfassend als antikes Theater, das die Grenzen des persönlichen Leidens und die Extreme der menschlichen Psyche auslotet. Jede Melodie werde gleichsam zum «Seelenschrei», durch den man erfahre, was die Figuren denken, begehren, träumen; welchen Illusionen sie unterliegen, welchen Phantasmen, welch trauriger Realität. Lenoir hat das Interesse der (italienischen) Romantik an der Emotionalität, an den dunklen Seiten des Menschen umgesetzt, ohne der Versuchung einer Über-Psychologisierung, einer Psychologisierung nach den Kriterien der Gegenwart zu erliegen. Bruno de Lavenère (Bühne) hat ihm dazu eine von einem Kettenvorhang umgebene Bühne auf der Bühne geschaffen. Ganz am Rand des schwarzen Bühnenraums sitzt, als Publikum auf der Bühne, der Chor, wenn er sich nicht gerade aktiv am Geschehen beteiligt. Lenoir folgt in seiner Inszenierung eng dem Libretto und der Musik und übernimmt in der Ouvertüre bereits auch dessen pessimistische Sicht der Geschichte und thematisiert die Traumata der Hauptfiguren: wo am Schluss Capellios (Schwieger-)Sohn, verloren durch Suizid liegen wird, liegt jetzt der Sohn, den er durch die Hand Romeos verloren hat. Diese Erfahrung verbittert Giuliettas Vater Capellio, der seinen Verlust in Gewalt zu kompensieren versucht. Der Mörder Romeo verstrickt sich immer tiefer in die Gewaltspirale, an der Giulietta schliesslich zerbrechen wird. Als am Schluss die beiden Rivalen vom vermeintlichen Tod Giuliettas erfahren, begeht Tebaldo Suizid. Romeo ist dermassen traumatisiert, dass er nicht mehr realisiert, dass er am Leichnam Tebaldos trauert. Mit dezenten Bildern verankert Lenoir die in der italienischen Renaissance (Luigi da Porto) wiederentdeckte Geschichte antiken Ursprungs («Pyramus und Thisbe» aus Ovids «Metamorphosen»): sei es Tebaldo, der bei seinem ersten Auftritt mit Kaffee und Gipfeli in der Hand gerade erst aufgestanden zu sein scheint, sei es die Verwendung von Schusswaffen und modernen Wahlkampf-Plakaten. Die ästhetischen Kostüme von Jean-Jacques Delmotte charakterisieren die Figuren und verweisen ebenfalls in die Gegenwart.
Foto © Suzanne Schwiertz
Daniel Reumiller gibt mit kräftigem Bariton ein Capellio von enormer szenischer Präsenz. Aiofe Gibney kann als Giulietta mit hochemotionalem Gesang und gestochen scharfen Koloraturen an den Erfolg der Regimentstochter anknüpfen. Ganz vorne in der Gunst des Publikums liegt Josy Santos, die mit ihrem hellen, hohen Mezzosopran und packender Bühnenpräsenz begeistert. Die Gestaltung von Romeos Todesszene gelingt ihr in kaum vorstellbarer Intensität. Gustavo Quaresma gibt einen Tebaldo mit ausgesprochen heldischer Attacke, Jonathan Macker als Lorenzo richtet am Schluss Capellio und möchte wohl dessen Platz einnehmen.
Valentin Vassilev hat den Chor TOBS einmal mehr blendend vorbereit. Mit sattem Klang und grosser Spielfreude hat er seine Aufgabe bestens bewältigt. In dieser Verfassung kann der Nabucco in der nächsten Saison kommen.
Maestro Franco Trinca trägt die Sänger auf Händen durch den Abend. Mit dem unglaublich klangschön aufspielenden Sinfonieorchester Biel Solothurn lässt er hören, wie «I Capuleti e i Montecchi» klingt, wenn leidenschaftlich musiziert wird, was in der Partitur steht.
Belcanto, wie er besser nicht sein könnte!
Weitere Aufführungen:
Aufführungsdaten Biel:
So. 07.11.21, 17:00; Fr. 26.11.21, 19:30; So. 28.11.21, 17:00; Di. 07.12.21, 19:30; Do. 09.12.21, 19:30.
Aufführungsdaten Solothurn:
Mi. 17.11.21, 19:30; Fr. 19.11.21, 19:30; Do. 16.12.21, 19:30;
Sa. 18.12.21, 19:00; Do. 30.12.21, 19:30; Mi. 26.01.22, 19:30.
Auswärtige Vorstellungen
Di. 23.11.21, 19:30, Stadttheater Schaffhausen; Sa. 04.12.21, 19:30, Theater La Poste Visp;
Sa. 15.01.22, 19:30, Kultur im Podium Düdingen; Do. 03.02.22, 19:00, Theater Winterthur;
Sa. 05.02.22, 19:00, Theater Winterthur; So. 06.02.22, 14:30, Theater Winterthur.
05.11.2021, Jan Krobot/Zürich