BIEDERMANNSDORF / Jubiläumshalle: DER FREISCHÜTZ
24. August 2023 (Premiere 20.8.23 Migazzi Haus Wiener Neudorf)
Von Manfred A. Schmid
Der Freischütz von Carl Maria von Weber, ein Meilenstein der romantischen Oper im Übergang zu Richard Wagner, ist heutzutage gar nicht so leicht auf die Bühne zu bringen. Das geheimnisvolle Brimborium des Probeschusses, der deus-ex-machina-ähnliche Auftritt des Eremiten im Finale, die Wolfschlucht und die vielen elendslangen Dialoge, sind Herausforderungen, an deren Bewältigung schon große Häuser gescheitert sind. Einen „Schuss ins Knie“ nannte etwa die Tageszeitung „Kurier“ die Neuproduktion 2018 an der Wiener Staatsoper, die es schon lange nicht mehr auf dem Spielplan des Hauses geschafft hat.
Angesichts solcher Erfahrungen wagt sich ein kleines, von Opern-Enthusiasten ins Leben gerufenes Unternehmen, das ohne Subventionen aus öffentlicher Hand auskommen muss, an dieses Werk heran: Kann das gut gehen? Das Imaginäre Opernensemble, 2013 von Pianist Wolfgang Fritzsche (musikalischer Leiter) und der Sängerin Katharina J. A. Gebauer (Produktionsleitung u.a.m.) gegründet, kann das. Was hier in einer Gaststube der Jubiläumshalle in Biedermannsdorf geboten wird, ist nicht große Oper, man erlebt vielmehr lebendige, ungekünstelte Oper, an der nicht nur die Wirtin in einer nicht-sängerischen Rolle mitwirkt, sondern auch das Publikum, das hautnah dabei ist. Denn der Übergang zwischen Bühne und dem Zuschauerraum, in dem die Zuhörer an den Tischen sitzen, ist ein fließender. Ein bisschen fühlt man sich dabei wie in einem Kreißsaal. Man ist dabei, wie eine Oper geboren wird. Immersion nennt man diesen Zauber des Eintauchens, des sich Hineinversenkens in das, was sich da vor einem abspielt. Das ist oft hochdramatisch, und man fiebert mit, zum Glück aber gibt es auch viele komische Momente, in denen befreit gelacht wird. Doch immer: Das Werk wird ernst genommen. Manchem, vertraulichem Augenzwinkern zum Trotz.
Das Imaginäre Opernensemble ist eine Privatinitiative, die Opernproduktionen erarbeitet, die an ungewöhnlichen Orten, fernab der geweihten Stätten der Hochkultur, aufgeführt werden. Das aufwandmäßig niederschwellige, aber künstlerisch höchst professionelle Angebot erreicht so auch Menschen, die zuvor noch nie in einer Opernvorstellung waren, an der unkomplizierten Aufbereitung Gefallen finden und zu Stammgästen werden können. Zugleich ist das IÖE auch eine Plattform für professionellen Sängerinnen und Sängern, die hier zum Einsatz kommen und in engem Kontakt mit dem Publikum ihre gesanglichen und darstellerischen Fähigkeiten, vor allem aber auch Kreativität, Spontaneität, Improvisationskunst und Fantasie einbringen können. Da die Produktionen nicht von öffentlicher Hand gefördert werden, gibt es hier keinen großen Aufwand an Bühnengestaltung, Kostümen und dergleichen. Da ist Fantasie gefragt, sowohl bei den künstlerisch Beteiligten, wie auch beim Publikum. Vor allem aber ist Totaleinsatz angesagt, für die meisten gleich in mehreren Rollen, die ihnen anvertraut sind. So ist der sonore, wandlungsfähige Bass Stefan Tanzer nicht nur der Erbförster Kuno, sondern tritt auch als Samiel, Eremit und Türsteher der zwielichtigen Disco „Wolfsschlucht“ – was für ein trefflicher Regieeinfall – in Erscheinung. Dass alle auch den Chor bilden, versteht sich von selbst. Andererseits ist diesmal die Rolle des Ännchens auf drei Soprane aufteilt (Teresa Sulamith Bauer, Alice Wagner, Johanna Stacher), die nicht nur timbremäßig verschieden klingen, sondern auch unterschiedliche Wesenszüge der Freundin von Agathe herausarbeitern.
Das Orchester besteht aus Klavier (Wolfgang Fritzsche), Cello (Ursula Hielscher) und Bratsche, weil Katharina Gebauer nicht nur als Sängerin der Agatha mitwirkt, sondern, wenn sie nicht gerade singt, auch die Bratsche spielt. Ganz abgesehen davon, dass sie auch für die Produktionsleitung und – gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Frizsche – für die Einrichtung des Libretto, das in den Dialogen dem heutigen Sprachgebrauch angepasst wurde, verantwortlich ist und zudem noch eine Arie für den Eremiten komponiert sowie eine Arie der Agatha vierstimmig gesetzt hat. An Gebauers Gestaltung der Agathe beindruckt, wie sie im Duett mit dem Einsiedler ihre jugendliche Unschuld und ihren naiven Charme aufblitzen lässt und dann in ihren eigenen Arien wie „Leise, leise“ ihre schöne, glockenhelle Stimme in feinsten Pianissmi erklingen lässt.
Der Max von Thomas Tischler besticht mit einem markigen, heldischen Tenor, der aber die Verletzlichkeit der Figur gut wiedergeben kann. Thomas Nestler als geheimnisumwitterter, Beklemmung auslösender Kaspar verkörpert die dunkle Seite der Geschichte. Die Wirtin der Lokalität, Susanna Stöckl, tritt auch in der Oper als Wirtin bzw. Polizistin auf. Auch das ein Markenzeichen für die immersive Dimension des Imaginären Opernensembles.
Erwähnung verdient auch Marcell Krokovy, der als Kilian zwar kaum zu singen hat, aber als er die tradierten Regeln des Probeschusses vorliest, daraus einen höchst komischen Monolog macht, der für Heiterkeit sorgt, während der groß angekündigte Death Metal Sänger (Erwin Jihann Hoyer) bei seinem Auftritt in der Wolfsschlucht-Disco äußerlich an den derzeit viel diskutierten Sänger von Rammstein erinnert.
Der herzliche Applaus des Publikums zeigt, dass die Oper angekommen ist und begeistert hat. Kein Wunder, irgendwie waren ja alle daran beteilgt. Am Tisch des Rezensenten sitzen zwei junge Männer, offensichtlich Sänger, die bei den Chören tatsächlich nach Kräften mitgesungen haben. Das ist ein weiteres Detail, das Aufführungen des Imaginären Opernensembles so einzigartig macht. Am Sonntag, 3. September 2023 um 18 Uhr gibt es im Kulturverein Redtenbach in Ottakring Gelegenheit dazu, seinen Freischütz kennenzulernen.