Kritik – Eugen Onegin am Stadttheater Bern vom 22.6.2025 Derniere:
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Mit Tschaikowskys Eugen Onegin bringt das Stadttheater Bern ein zentrales Werk des russischen Repertoires auf die Bühne. Die Produktion unter der Regie von Árpád Schilling verzichtet bewusst auf überbordende Aktualisierungen und konzentriert sich stattdessen auf das Innenleben der Figuren. Musikalisch wie darstellerisch zeigt sich das Ensemble geschlossen und auf hohem Niveau.
Einzelne Regieentscheidungen bleiben jedoch erklärungsbedürftig. So wirkt etwa die Umdeutung der Polonaise im dritten Akt zur Modenschau mit betont exzentrischer Kostümierung irritierend und überzogen.
Zudem wurde weniger auf grosse Gesten als auf eine Vielzahl präzise gearbeiteter Details hingearbeitet. Immer wieder lassen sich kleine Momente beobachten, in denen sich Charaktere über ihre Körperhaltung oder beiläufige Handlungen psychologisch öffnen: Etwa wenn Larina während der Büroarbeit zum Alkohol greift oder Tatjana sich ein Glas einschenkt, bevor sie sich an ihren Brief an Onegin setzt – eine stille Vorbereitung auf einen emotionalen Schritt. Auch in der Kostümwahl finden sich sprechende Parallelen, etwa, wenn Tatjana im selben Mantelmodell wie Onegin erscheint. Lenski wiederum unterstreicht seine überschwängliche Verliebtheit mit einem impulsiven Sprung auf die Theke. Die Regie überzeugt so durch eine dichte choreografische Sprache.
Positiv hervorzuheben ist das Bühnenbild, verdeutlicht von Juli Balázs, dessen zentrales Element – ein oktagonaler Grundriss – in allen drei Akten erhalten bleibt. Aus einer Gartenwirtschaft mit Art-Déco-Pavillon im ersten Teil wird im Finale ein moderner Ballsaal. Die Inszenierung scheint hier auf Dekadenz und gesellschaftliche Entfremdung anzuspielen, bleibt in ihrer Deutung jedoch ambivalent.
Verity Wingate überzeugt als Tatjana; Sie gestaltet die zentrale Figur der Tatjana mit klarer Linienführung und grosser Bühnenpräsenz. Besonders im Briefmonolog gelingt ihr eine eindrucksvolle Verbindung von stimmlicher Präzision und emotionaler Spannung. Ihr Sopran bleibt auch in den dramatischeren Passagen sicher geführt und zeichnet sich durch klangliche Wärme aus.
Jonathan McGovern als kontrollierter Onegin; Er verkörpert Eugen Onegin als zurückhaltenden, kontrollierten Charakter. Seine Stimme wirkt kraftvoll und ausbalanciert, bleibt jedoch bewusst auf Distanz, was dem psychologischen Konzept der Inszenierung entspricht. In der finalen Szene gelingt ihm eine glaubwürdige Darstellung der inneren Zerrissenheit Onegins, ohne ins Melodramatische zu kippen.
Starke Nebenrollen und stimmiges Ensemble; Michal Proszynski gestaltet Lenski mit einem klaren, lyrischen Tenor. Seine Arie im zweiten Akt bildet einen musikalischen Höhepunkt des Abends. Evegenia Asanova gibt eine lebendige Olga mit warmem Timbre, während Claude Eichenberger als Larina und Jordanka Milkova als Filipjewna stimmlich solide und szenisch präsent bleiben. William Meinert überzeugt als Fürst Gremin mit profundem Bass und ruhiger Würde.
In den kleineren Rollen fügen sich Fabian Meinen (Triquet) und Xiang Guan (Saretzki) schlüssig ins Gesamtbild ein. Chor und Extrachor der Bühnen Bern unter der Leitung von Zsolt Czetner leisten präzise Arbeit, ebenso die Kinderstatisterie, die mit Umsicht geführt wird.
Orchesterarbeit auf hohem Niveau; Das Berner Symphonieorchester unter der musikalischen Leitung von Anna Sulkowska-Migon präsentiert Tschaikowskys Partitur mit klarem Klangbild, gutem Gespür für Tempoverhältnisse und dynamische Spannungsbögen. Sie wahrt stets die Balance zwischen Bühne und Graben und lässt den Sängerinnen und Sängern Raum zur Entfaltung.
Das Publikum zeigte sich während der Aufführung zunächst eher zurückhaltend im Applaus, würdigte jedoch die Leistungen der Sängerinnen und Sänger sowie der Dirigentin am Ende mit begeistertem Beifall und zahlreichen Bravorufen. Der Schlussapplaus fiel lang und herzlich aus – ein deutliches Zeichen der Anerkennung für eine musikalisch eindrucksvolle und atmosphärisch dichte Vorstellung.
Marcel Emil Burkhardt