Carlos Nogueira, Magdalena Anna Hofmann, Zurab Zurabishvili ©Judith Schlosser
BERN/ Stadttheater: ANNA KARENINA von Jenö Hubay. Premiere 26.11.2017
Der ungarische Violinist und Komponist Jenö Hubay war ein Glückskind des Lebens: Er stieg zu einem der führenden Musiker Europas auf, verkehrte mit Liszt und anderen Musikergrössen, heiratete eine Gräfin, wurde geadelt, leitete die Musikakademie in Budapest, die zahlreiche berühmte Musiker hervorbrachte, und gründete das berühmte Huber-Popper-Quartett. Nach 1956 – während der kommunistischen Diktatur – wurde sein Name jedoch wegen seiner Nähe zum Adel aus den ungarischen Geschichtsbüchern gestrichen. Erst vor kurzem wurden Hubays Stücke im deutschsprachigen Raum wiederentdeckt, so auch die auf dem berühmten Roman von Leo Tolstoi basierende 1923 in Budapest uraufgeführte Oper „Anna Karenina“, die erst 2014 in Braunschweig nach fast 90 Jahren wieder aufgeführt wurde. Zum Glück nahm sich nun auch das Stadttheater Bern dieser vergessenen Oper an, denn die Musik – Puccini nicht unähnlich, mit einem Hauch Korngold und Wagner – ist durchaus hörenswert.
Neben eben dieser Musik war das Bühnenbild der unumstrittene Star des Abends: Christoph Schubiger hat die dankbaren Vorgaben (Pavillon in Winterlandschaft, Rennbahn, Schlafzimmer in Venedig, Park) mit Bravour umgesetzt, komische Einlagen wie Schlittschuhbahn und Hockeyspiele inklusive. Zusammen mit den wunderbar unspektakulären aber durchaus russisch angehauchten Kostümen (Nina Lepilina) und der klugen Lichtführung (Jürgen Nase) entstand ein Genuss für das Auge.
Adriana Altaras inszeniert die berühmte Story behutsam und texttreu, lässt aber Annas Alptraum von einem Muschik (also einem russischen Bauern), der von einem Zug überfahren wird, leibhaftig als Dauergast auf der Bühne als Annas personifiziertes schlechtes Gewissen herumwandern, was gerade in Venedig mit entsprechender Maske den maximalen Effekt erzielt. Auch die gelegentlich eingeblendeten Schlagsätze aus Tolstois Original (e.g. „Und wo die Liebe endet, da beginnt der Hass.“) passen perfekt.
Die Stärke der Aufführung liegt aber auch in der Besetzung der Hauptrollen: Allen voran glänzt die polnische Sopranistin Magdalena Anna Hofmann, deren Stimme sich vielleicht eher für Strauss oder Wagner eignet, die aber die Titelpartie mit der nötigen Dramatik singt, gute Tiefen hat (sie sang früher Mezzopartien) und sehr ausdrucksstark agiert. Ihr zur Seite steht der georgische Tenor Zurab Zurabishvili als nicht mehr ganz taufrischer Graf Wronsky, dessen schöne Tenorstimme mit seinen wunderbaren Höhen herausragt. Das zweite Pärchen mit einem hervorragend singenden Andries Cloete als Lewin und Lilian Farahani als Kitty (die sich erst in Wronsky verliebt, dann aber mit Lewin glücklich wird) komplettiert das Quartett hervorragend. Auch die weniger prominenten Rollen wie Fürst Sepukowsky (Iyad Dwaier) und Dolly (Jinsook Lee) sind gut besetzt, hingegen fällt Young Kwon als Graf Karenin etwas ab, ebenso wie Todd Boyce als Stefan Oblonsky und Bareon Hong als Gondoliere.
Die Partitur ist anspruchsvoll, auch das ständige Zugrattern ist nicht einfach umzusetzen, umso mehr muss das Verdienst von Jochem Hochstenbach gewürdigt werden, der das Berner Symphonieorchester nach einigen Abstimmungsschwierigkeiten im ersten Duett souverän leitete. Die solide Leistung des Chors des Theaters Bern (Leitung: Zsolt Czetner) sollte ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
Der Konflikt der Anna ist unlösbar: Entweder sie gibt ihr Kind und ihre gesellschaftliche Stellung auf oder sie wird nie erfahren, wie sich Liebe wirklich anfühlt. Nur ein einziges Mal sich lebendig fühlen, lieben, geliebt werden: Wer könnte darauf verzichten? Auch wenn diese Liebe gegen alle Konventionen und einhergehend mit dem Abbruch aller Beziehungen zwangsläufig irgendwann enden muss. Anna rennt mit offenen Augen ins Unglück, so wie sie sich in dieser Inszenierung nicht auf die Schienen wirft sondern dem Zug frontal entgegenstellt. Hingehen, Mitleiden wird hier zum Genuss!
Alice Matheson