Gioacchino Rossini: Guillaume Tell • Bühnen Bern • Vorstellung: 12.11.2022
(3. Vorstellung • Premiere am 23.10.2022)
Grosse Oper? Ganz grosse Oper!!!
Mit der Produktion von Rossinis Opus summum ist den Bühnen Bern ein Wurf gelungen. Selten ist eine so geschlossen hochkarätige Leistung zu erleben.
Foto © Tanja Dorendorf
Amélie Niermeyer (Regie) hat sich entschieden, das Stück zu modernisieren und in der Gegenwart spielen zu lassen. Solange die Modernisierung «funktioniert» und nicht dadurch motiviert ist, dass dem Publikum der Umgang mit der Historie nicht zugetraut wird, kann man das machen. Hat man ein so wunderbar funktionierendes Konzept wie Niermeyer, muss man die Modernisierung machen. Unter den genannten Bedingungen spricht nichts dagegen, denn es gehört ja gerade zu den Charakteristika der Grand Opéra, dass historische Ereignisse nicht um ihrer selbst Willen sondern als «Mäntelchen» aktueller Themen genutzt werden. Wenn Rossinis Librettisten den Wilhelm Tell «veropern», geht es nur vordergründig um den mittelalterlichen Freiheitskampf der Eidgenossen. Ein gutes Jahr nach der Uraufführung des Guillaume Tell, im Juli 1830, wird in Frankreich das Bürgertum die Macht ergreifen und die Bourbonen endgültig stürzen. Der Freiheitskampf und die damit zusammenhängende Frage des Tyrannenmords waren brandaktuelle Themen, die aber um aufs Tapet gebracht werden, zu können ein «Mäntelchen» brauchten. Niermeyer lässt das Stück in Tells Haus spielen, wo sich dessen Tochter Jemmy Gedanken über die repressive politische Situation in ihrer Heimat und die Rechtfertigung von Widerstand macht. Bei ihren Recherchen entdeckt sie eine Geschichte, die doch sehr ihrer Situation gleicht. Christian Schmidt hat Niermeyer Tells Anwesen auf die Drehbühne gestellt. Jemmy hat ihr Jugendzimmer, mit einer Tapete mit schneebedeckten Tannen und Rehkitzen, im ersten Stock, während im Erdgeschoss Waffen gelagert, Molotow-Cocktails abgefüllt und der Widerstand besprochen werden. Video-Einblendungen zeigen abwechselnd Naturbilder und Demonstrationen in Belarus und der Ukraine. Die Verwendung dieser Bilder erfolgt so subtil, dass das epische Theater im Sinne Brechts dem Zuschauer erst im Finale, dann aber mit voller Wucht, wirklich bewusstwird. Zum hymnischen Schlusschor, der «Liberté» fordert, werden Bilder zerschossener Wohnblocks ukrainischer Grossstädte gezeigt. Die Kostüme, von Kriegskleidung bis zu bequemer Alltagskleidung, hat Axel Aust entworfen
Foto © Tanja Dorendorf
In den Grand Opéras hat der Chor zum ersten Mal eine tragende Rolle und hier hat Zsolt Czetner mit dem Chor und Extrachor der Bühnen Bern und dem Studierenden-Ensemble der HKB grossartige Arbeit geleistet. Der Chor klingt immer kompakt und satt, kann auftrumpfen aber sich auch ganz zurücknehmen und bleibt dabei immer bestens verständlich.
Das Berner Symphonieorchester unter musikalischer Leitung Sebastian Schwab spielt einen schlicht unerhörten Abend. So subtil, so ausgeglichen, in allen Registern so bestens präpariert hat man es noch kaum je gehört und so kommen Rossinis Meisterschaft der Instrumentierung, sein Brio, seine Crescendi traumhaft schön zur Geltung.
Foto © Tanja Dorendorf
Bei den Solisten geht des Kritikers Lobeshymne unvermindert weiter. Der Litauer Modestas Sedlevičius gibt den Guillaume Tell mit gepflegtem Charakter-Bariton der wunderbar zur Nachdenklichkeit seiner Rolle passt. Anton Rositskiy ist Arnold Melcthal schlicht eine Traumbesetzung. Bei diesem Tenor kommen schier endloser Atem, Metall, Glanz und Höhensicherheit in idealer Art und Weise zusammen. Christian Valle leiht dem Walther Furst seinen profunden Bass, während Andreas Daum Arnolds Vater Melctal gibt. Giada Borrelli ist als Jemmy ein Stück weit das Zentrum der Aufführung und mit ihrem wunderbar hellen Sopran verkörpert sie den Teenager ganz vorzüglich. Matheus França ist ein richtig widerlicher, aber stimmschöner Gesler. Währen er die Schweizer seinen Hut verehren lässt, verzehrt er genüsslich einen Apfel. Michał Prószyński sorgt als Rodolphe für die Umsetzung von Geslers Anweisungen. Ein Höhepunkt des Abends ist Masabane Cecilia Rangwanasha als habsburgische Prinzessin Mathilde: mit perfekt sitzendem, vollen, höhensicheren Sopran meister sie auch das erste Bild des dritten Akts perfekt. Claude Eichenberger ist eine mustergültige Hedwige. Filipe Manu als Ruodi und Jonathan McGovern als Leuthold ergänzen das formidable Ensemble.
Ganz grosse Oper, die man erlebt haben muss!
Weitere Aufführungen:
So. 20.11.2022, 18:00; So. 11.12.2022, 18:00; Fr. 16.12.2022, 19:30; Di. 20.12.2022, 19:30;
Sa. 07.01.2023, 19:30.
12.11.2022, Jan Krobot/Zürich