Giuseppe Verdi: Don Carlos • Bühnen Bern • Premiere: 16.10.2021
Theater von heute
Giuseppe Verdis «Don Carlos» ist die erste Neuproduktion der Opernsparte der Bühnen Bern. Musikalisch überzeugt der Abend auf ganzer Linie.
Gustavo Castillo (Rodrigue), Raffaele Abete (Don Carlos); Foto © Janosch Abel
Bei Verdis letzter Grand Opéra stellt sich immer die Frage, welche Fassung gespielt werden soll und hier hat sich die Opernsparte der Bühnen Bern lobenswerter Weise für einen französischen Text entschieden. Was im Programmheft fälschlicherweise als fünfaktige französische Fassung von Modena 1886 bezeichnet wird – die gibt es nicht, denn die Modena-Fassung wurde in Italienisch gespielt –, ist die Musik jener italienischen Fassung, die das erste Mal am 29. Dezember 1886 in Modena gespielt wurde mit dem französischen Text, der erst nach Vollendung der Revision von Achille de Lauzières und Angelo Zanardini ins Italienische übersetzt wurde. Hinzu kommen Einschübe aus den Pariser Fassungen von 1866/1867. Die in Bern gewählte Fassung entspricht keiner der von der in Sachen «Don Carlos» führenden Musikwissenschaftlerin Ursula Günther rekonstruierten sieben Fassungen. Man hat sich mit der Wahl der Musik der Modena-Fassung und dem französischen Text, auf den diese Musik komponiert wurde, eine Fassung geschaffen, die mutmasslich in Verdis Sinn gewesen sein dürfte, aber von den Umständen des Opern-Betriebs «verhindert» wurde. Die Uraufführungsfassung des «Don Carlos» mit den grossen Chören und dem Ballett war für die meisten italienischen (und wohl auch viele internationale) Bühnen nicht praktikabel, weil zu gross, und war zudem nicht in Italienisch, was den zeitgenössischen Usancen (Aufführungen in der Landessprache oder Italienisch als Lingua franca der Opernwelt) widersprach. In Anbetracht der Tatsache, dass es, um die in Paris vorgegebene Maximaldauer einer Vorstellung nicht zu überschreiten, bis zur Uraufführung des «Don Carlos» am 11. März 1867 schon zu hastigen Streichungen kam, sind die Einschübe der Pariser Fassung von 1866/1867 in die gewählte Fassung auf jeden Fall zu begrüssen.
Das Berner Symphonieorchester unter seinem neuen Chefdirigenten Nicholas Carter setzt Verdis Partitur mit herbem, manchmal an eine Alte Musik-Formation erinnerndem Klang, prächtig um. Es wird leidenschaftlich musiziert, alle Register des in grosser Formation angetretenen Orchester glänzen mit wunderbar gespielten solistischen Passagen. Der eine Grand Opéra ausgezeichnete Kontrast von Massenszenen und kammermusikalischen Passagen wird bestens umgesetzt, auch wenn in die Massenszenenetwas weniger effekthaschend interpretiert werden könnten.
Der Chor der Bühnen Bern, bestens von Zsolt Czetener vorbereitet, setzt sein Part klanggewaltig und mit grosser Bühnenpräsenz um. Hier bleiben keine Wünsche offen.
Vazgen Gazaryan gibt ein sonoren, szenisch etwas zurückhaltenden Philipp II. Raffaele Abete als Don Carlos singt den Don Carlos mit kräftigem, nuancenreichen Tenor. In den Höhen kommt er immer wieder an seine Grenzen, teilt sich den Abend aber so klug ein, dass er nie in Gefahr kommt. Gustavo Castillo ist ein Rodrigue mit grosser Bühnenpräsenz. Sein recht heller Bariton ist bestens geführt. Matheus França ist als Grossinquisitor in seiner grossen Szene ein ebenbürtiger Partner Philipps. Sein Bass lässt die Ehrfurcht des Volkes wie auch von Philipp sofort verstehen. Die Entdeckung des Abends ist die junge Südafrikanerin Masabane Cecilia Rangwanasha als Élisabeth de Valois. Sie begeistert mit einem hellen, klaren, kräftigen Sopran und, wie es die Jury des BBC Cardiff Singer of the World-Wettbewerb (2021) formuliert, mit vollendeter Technik und emotionaler Kraft. Eve-Maud Hubeaux ist eine ihr ebenbürtige Eboli und überzeugt mit grosser Bühnenpräsenz. Evgenia Asanova singt einen jugendlich-frischen Thibault und Giada Borrelli meistert ihren kurzen Einsatz absolut eindrücklich und klangstark. Die flämischen Gesandten sind mit Kimon Barakos, Vinicius Costa da Silva, Christoph Engel, Félix Le Gloahec, Yurii Strakhov und Jiachewng Tan endlich einmal so besetzt, dass man ihn den Freiheitskampf auch abnimmt. Christian Valle als Ein Mönch, Filipe Manu als Graf Lerma, Michał Prószyński als Ein königlicher Herold und György Antalffy, Iyad Dwayer, Chanho Lee und Louis Morvan als Mönche ergänzen das Ensemble bestens.
Die feministische Positionen der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes seien, so das Programmheft, ein wichtiger Bezugspunkt für die Berner Inszenierung von Regisseur Marco Štorman.
Štorman, so äussert er sich im Programmheft, geht es nicht darum, in seiner Inszenierung den Katholizismus vorzuführen, sondern eine Ideologie: den Moment, wenn Glaube in etwas Dogmatisches umkippt, das kontrolliert und manipuliert. Und diese Ideologie scheint führt ihn das patriarchale Gesellschaftsmodell zu sein, das sowohl Don Carlos wie auch den Frauen zum Verhängnis wird. Elisabeths grosse Arie zu Beginn des 5. Akts sieht Štorman nicht als Abschied vom Leben sondern als Utopie eines besseren Lebens. «Die Berner Inszenierung stellt», inspiriert von Despentes Positionen, die auf einer radikalen Ablehnung der weiblichen Opferhaltung beruhen, «die Frage, was passiert, wenn die Figuren nun tatsächlich die Anwendung von Gewalt als letzten Ausweg sehen: Muss Emanzipation weh tun? Ist auf dem Weg zur Freiheit alles erlaubt?» Štorman weiter dazu im Programmheft: «Wir müssen nicht alles kaputthauen, um etwas Neues entstehen zu lassen. Aber wir müssen vermeintliche Spielregeln überwinden, in denen wir uns eingerichtet haben. In unserer Inszenierung haben wir ein absolutes Sinnbild zur Überwindung des patriarchalen, gottgegebenen, von Männern geschriebenen und in der Macht ausgeübten Systems gewählt: die radikale Auslöschung dieser Spielregeln samt ihren männlichen Repräsentanten. Für eine Utopie reicht es aus, zu wissen, dass es anders sein muss, und sich zu trauen und zu versuchen, sich auf das Unbekannte einzulassen.» Die Bühne, die Frauke Löffel für Štorman kreiert hat, ist bis auf ganz wenige Versatzstücke, ein Feuer für den ersten Akt, Kniebänke und viele farbige Tücher leer und schwarz. Die Kostüme von Axel Aust sind bis auf jene von Elisabeth ebenfalls schwarz. Bernhard Bieris Beleuchtung kann an dem tristen szenischen Eindruck nicht mehr viel ändern.
Schlüssig ist dieser Gedankengang, wenn man annimmt, heute Musiktheater, nur in dem Kontext, in dem wir leben, machen zu können und bereit ist die eigenen Ideen dem Werk aufzuzwingen. Um zu zeigen «wie ohnmächtig und klein man in einer Gruppe ist, gegen deren Dynamik man sich nicht freikämpfen kann», «zu zeigen, wie Rodrigue seine Gedankenstruktur in Carlos einpflanzt» und die Fragen zu beantworten, wieso eine so grosse Figur Elisabeth «vermeintlich so schwach ist» und ob es «überhaupt eine Individualität, einen freien Willen» gibt, ist die Verbiegung von Verdis Meisterwerk nicht nötig. Es gibt immer wieder und genug Beispiele, die zeigen, dass mit den Werken, die wir aufführen und die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen entstanden sind, sehr wohl heute Musiktheater zu machen ist.
Musikalisch überzeugt der Abend auf ganzer Linie.
Weitere Aufführungen:
So 24. Okt., 16:00; So 31. Okt., 16:00; So 14. Nov., 16:00, So 28. Nov., 18:00, So 05. Dez., 16:00;
So 19. Dez., 16:00; Do 23. Dez., 18:00; Di 04. Jan., 18:00; So 09. Jan., 16:00; So 23. Jan., 16:00;
Sa 29. Jan., 18:00.
17.10.2021, Jan Krobot/Zürich