BERLIN / Waldbühne: Open-Air Konzert ANNA NETREBKO & YUSIF EYVAZOV, 31.8.2017
So viel Aufregung und medialen Hype um einen Auftritt der russisch-österreichischen Superdiva wie in Salzburg oder Wien gibt es in Berlin freilich nicht. Ein Netrebko-Konzert in der coolen deutschen Hauptstadt ist hier kein Staatsereignis, sondern gilt der Sparte Kunst/Unterhaltung oder dem Klassikbusiness und damit basta. Ein paar kleine Plakate hier und da, ein bissl was in der Zeitung. Am 29.8. stand in der B.Z. sogar die bei aller möglichen Kritik abstruse Schlagzeile zu lesen: „Warum will kaum ein Berliner Anna Netrebko sehen?“ Das weiß freilich der Veranstalter anders, nämlich dass „schon jetzt feststeht, dieses Konzert wird die Krönung des Sommers: Denn Starsopranistin Anna Netrebko und Tenor Yusif Eyvazov haben ein Programm zusammengestellt, das Klassikfans jubeln lässt. Romantische „Welthits“ der Oper wie „Nessun dorma“ oder „O mio babbino caro“ von Giacomo Puccini sorgen für Gänsehautmomente….Und auch die Stücke mit Chor und dem Orchester der Staatsoper Ungarn unter der Leitung von Michelangelo Mazza werden begeistern.“ Uff! An solchen Sätzen könnte man sich geradezu verschlucken.
So einfach ist die Welt im hohen Norden Deutschlands aber ohnedies nicht. Jeder Waldbühnenabend ist in Wahrheit ein Vabanquespiel zwischen Gelsenplage (norddeutsch=Mücken) und Regenguss. Ausgerechnet heute gab es in Berlin einen Wetterumschwung, zu Mittag schüttete es wie aus Schaffeln. Am Ende hatten die Operngötter Erbarmen mit Publikum, TV und der ganzen Medienmaschinerie. Der Abend konnte schließlich vor mächtig dräuender rotlichternder Wolkenkulisse mit 20 Minuten Verspätung beginnen.
Freilich hat Mann/Frau vorher schon lange Stunden ausgeharrt, nachdem die elend mühselige Anreise per Auto (kein Parkplatz ) oder überfüllten Öffis überstanden war. Und die völlig idiotischen „Sicherheitsprozeduren“, die streng wie bei einer Einreise in die USA sind, haben es ja auch in sich. Jedes Taschenfomat größer als A4 ist strikt untersagt (Bei Zuwiderhandeln wird der Konzertbesucher gnadenlos an eine teure überfüllte „Garderobe verwiesen“ oder geht eben wieder.) und es darf maximal 0,5 Liter Getränk pro Person mitgenommen werden, sonst könnte ja das Geschäft leiden:
HINWEISE ZUR EINLASSKONTROLLE
Bitte beschränken Sie die Mitnahme auf folgende Gegenstände:
Tasche oder Rucksack bis max. DIN A4 (21,0 cm x 29,7 cm)
Jutebeutel/Turnbeutel/übliche Einkaufsplastiktüte, keine „Ikea-Größe“ (Ausnahme, da diese Taschenarten nur ein Fach besitzen und das Kontrollieren am Einlass nicht zeitintensiv ist.)
ein alkoholfreies Getränk pro Person bis 0,5-Liter-Gefäßgröße im TetraPak oder Plastikflasche (PET)
Sitzkissen und Decke
Bitte verzichten Sie auf das Mitbringen von folgenden Gegenständen:
Tasche und Rucksack über DIN A4 (21,0 cm x 29,7 cm)
Sperrige Gegenstände jeglicher Art (Koffer, Körbe, Helme, Kinderwagen, Stockschirme, etc.)
Speisen und Snacks
Technische Geräte (Notebooks, Tablets, professionelles Kamera-Equipment, GoPros, Selfie-Sticks, große Powerbanks, etc.)
Zugegeben, die Szenerie der Waldbühne, die von den Nazis 1936 (Olympische Spiele) nach dem Vorbild des antiken Theaters in Epidauros errichtet wurde, ist imposant. 22.290 Personen finden auf den 69.585m2 Fläche Platz. Ein angemessener Rahmen für die Größten der Großen im musikalischen Showbiz. Und zwei davon sind heute ja schließlich auch da und singen. Yussif Euyvazov ist in Berlin kein Unbekannter in Sachen Absagen, hat er doch bei dem in der Philharmonie angekündigten Duoabend mit der russischen Sopranistin Maria Guleghina am 13.6. 2017 mit der Deutschen Staatsphilhamonie Rheinland Pfalz sich in allerletzter Minute krankheitsbedingt entschuldigen lassen. Das Publikum hat es erst vor Ort erfahren….
Nun, wie war also die „Krönung des Sommers“? Wie sich das für solch ein Spektakel, das am 10. September im ZDF ausgestrahlt und höchstwahrscheinlich als DVD bald manches Schaufenster zieren wird, gehört, sieht die erblondete Diva an diesem Abend nicht nur prächtig aus, sondern ist auch in fast ebensolcher stimmlicher Verfassung: In schwarzer Robe mit edlem Collier kann Anna Netrebko nach der „Nabucco“-Ouvertüre mit „Nel di della vittoria…Ambitioso spirto… Vieni t‘affretta“ aus Verdis Macbeth den Beweis antreten, dass sie im italienischen Spinto-Fach derzeit kaum Konkurrenz zu fürchten braucht. Welche Entwicklung diese Stimme zurückgelegt hat, kann nachvollziehen, wer sich zum Vergleich das Album „sempre libera“ aus dem Jahr 2004 mit Abbado anhört. Nichts Mädchenhaft-Unbeschwertes, sondern da steht eine reife Frau auf der Bühne mit allen guten wie schlechten Erfahrungen im irrlichternden Sommer der Karriere. Netrebkos dramatischer Sopran leuchtet nun überwiegend in dunklen Farben, wobei ein sattes Rembrandt-Rot vorherrscht. Die Höhe klingt im Verlauf des Abends leicht angestrengt, die Tiefe hat hingegen beinahe Kontraaltcharakter. Yusif Eyvazov beginnt gleich mit der Stretta aus dem Troubadour. Angst scheint er nicht zu haben. Technisch ist er 1A, aber es fehlen doch ein wenig an Schmelz und Raffinesse, auch bleiben die monochrome Stimmführung und das herbe Timbre letztlich Geschmackssache. Netrebko kann mit ihrem Salzburg-Hit „Ritorno vincitor“ aus Aida überzeugen, ein vokales Schauspiel der Wahrhaftigkeit mitten in diesem eigenartigen Opernzirkus, dessen schlechteste Seite mit einem übel gesungenen Gefangenenchor aus Nabucco schnell überblättert ist. Ein kräftiges Feldherren-Statement gab Eyvazov mit der Radames Arie „Celeste Aida“. Das Duett „Pur ti riveggio, mia dolce Aida“ beschloss den ersten Teil des Programms.
Da der Veranstalter offenbar die Unbilden des Berliner Wetters kennt und fürchtet, ging es nach kurzen zehn Minuten Pause weiter. Einem unnötigen „Popolo di Pechino“ folgte die rauschhaft metallisch, aber auch mit ausladendem Vibrato gesungene Auftrittsarie der Turandot „In questa reggio“. Netrebko sorgte hier in rot-silbernem Outfit für Ohs und Ahs. „Nessun dorma“ ist Eyvazovs beste Nummer an diesem Abend. Da imponieren schon die unglaubliche Kraft und bombensichere Höhe seines robusten Tenors. Als instrumentaler Zeitschinder läutete der „Tanz der Stunden“ aus Ponchiellis „La Gioconda“ den „Puccini-Teil“ des Abends mit dem unvermeidlichen und für die letztlich in hellblau gewandete Netrebko zu lyrischen „O
mio babbino caro“ aus Gianni Schicchi und Cavaradossis „E lucevan le stelle“ aus Tosca ein. Der Rest des Wunschkonzerts: Ernesto de Curtis‘ „Non ti scordar di me“ als Duett, das „Carmen-Vorspiel“, und zuletzt als publikumswirksame Promo für das neue Album „Romanza“ die Schmachtfetzen „La Fantasia“ (Netrebko), „Ricominceró“ (Eyvazov) sowie das Duett „Cantami“ von Igor Krutkov. Als Zugabe – schwer zu erraten – das Brindisi aus Verdis „La Traviata“. Am Ende Jubel und Eyvazovs Geständnis: „Berlin, ich liebe Dich!“
TV- Aufzeichnung am 10. September 2017 im ZDF
Wer (noch) nicht genug hat, kann ja nach Tokyo fliegen. Dort nämlich wird am 28. September nach den Wiener Troubadouren das nächste Konzert mit Anna Netrebko und Yusif Eyvazov im Tokyo City Opera Theater stattfinden. Bis Mai 2018 stehen neun weitere solcher Konzerte in aller Welt in deren Terminkalender.
Dr. Ingobert Waltenberger