Berlin/ Deutsche Oper: „BORIS GODUNOW“ von Modest P. Mussorgskij, Premiere, 17.06.2017.
Titelrollensänger Ain Anger. Copyright: Bernd Uhlig
Zwei großartige Bässe und die Chöre tragen diese Premiere an der Deutschen Oper Berlin, eine Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, London. In beiden Häusern hat man den kraftvollen „Ur-Boris“ von 1869 gewählt. Mussorgski selbst verfasste das Libretto, inspiriert insbesondere von Puschkins gleichnamigem Drama.
Den russischen Opernhäusern gefiel diese Oper – seinerzeit eine Abkehr vom bis dato Gewohnten – gar nicht. Sie vermissten Frauenrollen und Arien. Erst 1929, 48 Jahre nach Mussorgskis Tod, wurde das ursprüngliche Werk in Moskau erstmals aufgeführt. Auch die Zweitfassung von 1874, gebracht in St. Petersburg, hatte kaum Erfolg.
Inzwischen genießt dieses düstere Melodram aus dem zaristischen Russland des 16. Jahrhunderts allgemeine Wertschätzung. Calixto Bieito hat es 2013 an der Bayerischen Staatsoper inszeniert, Peter Konwitschny 2015 in Nürnberg. Hier nun das „Original“ in der Regie von Richard Jones, das in London am 13. März 2016 Premiere hatte.
Er erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Ende eines ehrgeizigen Zaren (Regierungszeit 1598-1605) quasi vom Blatt. Das wirkt zwar etwas trocken, hat aber unbestreitbare Vorteile. Die Interpreten müssen mit ihrem Text nicht gegen inhaltsferne Regie-Eskapaden (auf Englisch: German Trash) ansingen. Speziell die Herren können sich in dieser fast hundertprozentigen Männeroper voll entfalten. Und sie können es wirklich!
Die waagerecht zweigeteilte Bühne (Miriam Buether) ist britisch praktisch. Auf der schmalen oberen Ebene geschehen die Morde. Mehrmals spielt dort ein kleiner Junge mit einem Kreisel, wird von drei Vermummten überfallen, rüde getötet und weggeschleppt. Er ist Dmitri, der Sohn des verstorbenen Zaren Iwan des Schrecklichen und der spätere Anwärter auf den Zarenthron.
Robert Watson, Ante Jerkunica. Copyright: Bernd Uhlig
Per saldo tragen zwei höchst beeindruckende Bässe das Geschehen: Ain Anger als Gast in der Titelpartie (Berliner Rollendebüt) und Ante Jerkunica als Mönch und Chronist Pimen. Jerkunica kommt zuerst ausführlich an die Reihe. Kraftvoll und ausdrucksstark präsentiert er dem jungen Mönch Grigorij Otrepjew die Geschichte der Zaren. Darüber hinaus berichtet er auch von dem Mord am Zarewitsch, den er mit eigenen Augen gesehen hat.
Robert Watson als Grigorij, noch Stipendiat des Förderkreises, kann mit seinem kräftigen Tenor gut gegenhalten und gibt plausibel den Ehrgeizigen, der aus dem Kloster flieht und sich später – wegen der Ähnlichkeit mit dem ermordeten Prinzen – als der echte Dmitri ausgeben und gegen Boris zu Felde ziehen wird.
Zunächst aber trifft Grigorij bei der Flucht auf zwei Bettelmönche, die lieber saufend herumziehen, als im Kloster zu beten. In dieser Szene überrascht erneut ein kräftiger Bass: der vom Einspringer Alexei Botnarciuc. Sein Partner mit ebenfalls kräftigem Tenor ist Jörg Schörner. Bei dieser lustvoll überdrehten Wirthausszene gibt’s Lacher im Publikum sowie den ersten und einzigen Zwischenbefall.
Ansonsten gibt es bei dieser finsteren Story weder fürs Publikum und schon gar nicht für Boris Godunow Grund zum Lachen. Der, vor Jahren vom Volk förmlich auf den Zarenthron gezwungen, hat zunehmend Sorgen, als Familienvater und als Herrscher über das unter einer Hungersnot leidende Russland.
Ain Anger, Julius Röttger. Copyright: Bernd Uhlig
Ain Angers dunkelwarmer Bass lässt überzeugend die Liebe zu seinem Sohn Fjodor (Knabensopran Philipp Ammer) hören, dessen gute Ausbildung er dezidiert unterstützt. Schon früh erweist sich der Junge als Landkartenzeichner. Das ist geschichtlich erwiesen, und das Regieteam hat es beachtet. Boris teilt auch den Kummer seiner unglücklichen Tochter Xenia (Alexandra Hutton), deren Bräutigam gerade im Krieg gefallen ist.
Vor allem macht ihm das hungernde Volk Sorgen und Probleme. Korn und Gold hat er an die Armen verteilt, doch das hat nicht geholfen. Die Menschen und er selbst sehen diese Nöte als Strafe für den Mord an Dmitri, für den sie Boris verantwortlich machen.
Hier kommen die Chöre des Hauses, einstudiert von Raymond Hughes, und der von Christian Lindhorst geleitete Kinderchor (in historisch inspirierten Kostümen von Nicky Gillibrand) gekonnt ins Spiel. Sie sind das Volk, mal feiernd, mal fordernd, mal fromm, mal aufsässig und per saldo den Mächtigen ausgeliefert. Das wird glaubhaft gespielt und volltönend gesungen. Auch Gastdirigent Kirill Karabits trägt mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin das Seine zum musikalischen Gelingen dieser Berliner Premiere bei.
Der Preis gebührt dennoch Ain Anger, und spätestens jetzt erkennen wohl alle, warum er weltweit gefragt ist. Ein großer Mann mit großer schöner Stimme. Da stimmt auch optisch alles. Wie er nun seine Reue und die zunehmenden Schreckens-Halluzinationen heraussingt und sich in seinen Qualen windet, fasziniert so sehr, dass er – der Mordauftraggeber – einige Sympathien gewinnt. (In London wurde die Rolle von Bryn Terfel gesungen).
Aber wie hilflos wirkt der eigentlich Mächtige gegenüber seinem Widersacher, dem Fürsten Wassili Schuiskij, den Burkhard Ulrich (Tenor) als raffiniert schmierigen Typen zeigt. Der setzt auf den neuen Dmitri, hat ihm ein Heer organisiert. Der holt den alten Mönch (Ante Jerkunica) herbei, der von einem Wunder am Grab des ermordeten jungen Dmitri berichtet.
Ohnehin erscheint immer wieder der ermordete Junge mit dem Kreisel als Wahnbild vor Boris’ Augen. Der fühlt sein Ende, macht seinen Sohn Fjodor zum Nachfolger, bricht zusammen und stirbt.
Und auch dieser Junge steht danach auf der oberen Ebene, Vermummte nahen und töten ihn genau so wie einst den kleinen Dmitri, eine krasse Anspielung auf das historische Geschehen. Denn kurz vor dem Einzug des falschen Dmitri (Grigorij Otrepjew) „wurden der abgesetzte Zar und seine Mutter in deren Kremlwohnung erwürgt,“ ist bei Wikipedia zu lesen. Der war dann allerdings älter und wird hier – abweichend vom Foto – von Philipp Ammer verkörpert.
In den übrigen eher kurzen Rollen Ronnita Miller als Xenias Amme, Annika Schlicht als Schankwirtin, Dong-Hwan Lee als Andrej Schtschelkalow, Matthew Newlin als Gottesnarr, Andrew Harris als Mikititsch, Andrew Dickinson als Leibbojar, Stephen Bronk als Mitjuch und Samuel Dale Johnson als Grenzpolizist.
Sie alle erhalten eher kurzen, aber kräftigen Beifall, Ante Jerkunica und Ain Anger jedoch die verdienten Ovationen. Wie sehr sich Ain Anger das Schicksal des Boris zu eigen gemacht hat, ist ihm noch anzumerken. Welch ein Glücksfall für diese Aufführung!
Weitere Termine: 23. und 27. Juni sowie am 01., 04. und 07. Juli