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BERLIN / VOLLGUTLAGER „THE WORLD TO COME“ – Eine Berliner Festmesse frei nach Ludwig van Beethovens „Missa solemnis“; Generalprobe

Berauschende Chorkonzertwanderung durch kult-okkulte Eventräume und einen schrägen Club in Berlin

08.10.2020 | Konzert/Liederabende

BERLIN / VOLLGUTLAGER „THE WORLD TO COME“ – Eine Berliner Festmesse frei nach Ludwig van Beethovens „Missa solemnis“; Generalprobe 7.10.

Berauschende Chorkonzertwanderung durch kult-okkulte Eventräume und einen schrägen Club in Berlin


Foto: Waltenberger

Ob „The World to come“ ein generell zukunftstaugliches Konzept abgibt, na schauen wir mal. Mit Sicherheit kann ich aber berichten, dass die Generalprobe vom 7.10., die für die Presse offen war, vielen ein intensives musikalisches, ja gesamtheitliches Erlebnis beschert hat. Das Publikum sitzt nicht, sondern schreitet in Zeitlupe durch Hallen, Gänge, Tanzräume, harrt himmlisch besungen oder befiedelt im weniger göttlichen, sondern im eher regengatschigen Freien aus. Genauer gesagt im baustellenreichen Stadtviertel Neukölln, Neckargasse Ecke Isarstrasse.

Die Karl-Marx Straße ist großteils abgesperrt. Intelligenterweise hat die Bezirksverwaltung auch die Straßenschilder der Nebenstraßen entfernen lassen, sodass die Adresse für Ortsunkundige ohne Handy GPS unauffindbar wäre. Irgendwann landet man vor Berlins größter Indoor-Kartbahn (10.000 m²), von wo aus die Eventlocation „Vollgutlager“ als erste und beeindruckendste Station dieser abgefahrenen musikalischen Prozession zugänglich ist. Das sind 2.000m², eingebettet in das Areal der ehemaligen Kindl-Brauerei. Hier treffen „der raue Charakter einer ehemaligen Industrie-Produktionshalle kombiniert mit Überbleibseln der kreativen Underground-Szene aufeinander und machen den besonderen Charme dieser Räumlichkeiten aus.“

Die geballten Kräfte des Rundfunkchors Berlin, einem der besten Profichöre weltweit, sowie des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin verteilen sich in strenger Corona-Abstands-Aufstellung auf das gesamte Areal. Dazwischen waren in der berühmten 1,5 Meter Kadenz gelbe Points auf dem Fußboden angebracht, die einen schlingernden Rund-Parcours weisen. Dezent und dennoch bestimmt erinnert das die Gäste im Strömen haltende Personal daran, weiterzugehen. Dieses einer Choreographie nicht unähnliche Miteinbeziehen des Publikums lockert die Grenze zwischen Beobachten und Agieren, verschiebt die Pole Aktivität des Musizierens und Passivität des Zuhörens zugunsten einer freieren und spielerischeren Interaktion von Kunst und Mensch.


Foto: Waltenberger

Musik in verschiedenen Stationen, ein Klarinettist in barockem Kostüm tänzelt und lockt die Schlange wie der Rattenfänger. Ausgehend von Beethovens Messe ist das zentrale Element des Konzepts von Tilman Hecker der polyphone Klang: Die Vielstimmigkeit steht für das Aufeinander-Hören, Miteinander-Gestalten und den gegenseitigen respektvollen Umgang – die Grundlagen der Toleranz.

Die grandiose Partitur von Birke J. Bertelsmeier – hoffentlich wird es eine akustische Konserve geben – reiht die verschiedenen musikalischen Elemente nicht bloß nebeneinander. Zeitgenössisches und Beethoven verschmelzen zu einer höheren Einheit, die spirituelle Kraft dieses liturgisch ritualisierten Gesamtkunstwerks ist enorm. Das phasische Überlappen sowie die Offenheit und Verbundenheit der Räume führt dazu, dass sich Klänge mischen und dort noch nachklingen, wo schon längst ein Sprachvideo um Aufmerksamkeit heischt oder ein a cappella Männerchor klösterlich pur die Welt spätmittelalterlicher Gesänge heraufbeschwört. Nachhall, Erinnerung und Fortschreiten. Nahe sind die Gesichter und Noten der Orchestermusiker und des Chors. Durch das weit in den Raum gestreut sein, verlieren die großen Ensembles ihren kollektiven Charakter. Jede und jeder Einzelne entlang des Weges ist hör- und individualisierbar. Vielleicht erkennt so mancher zum ersten Mal, welch wunderbare Sänger in so einem Profichor mitwirken.

Es wäre nicht Corona-Zeit, falls das Projekt nicht auch von einer Absage betroffen gewesen wäre. Moor Mother, eine amerikanische Dichterin und Musikerin konnte nicht aus den USA anreisen. Dafür war die Künstlerin an verschiedenen Stationen mit ihrer eigens für die Veranstaltung komponierten Musik sowie zusätzlichen Video- und Audiobeiträgen präsent. Colin Self, Mohammad Reza Mortazavi und Planningtorock sind ebenfalls an dem konzeptuell weit gespannten Projekt beteiligt.

Ja, nicht einmal die Toiletten des Schwuz werden ausgespart. So geht der feierlich beinahe in Renaissancemanier sich querbeetein schlängelnde Zug auch am mit Pornobildern ausstaffierten Pissoir vorbei, an der rot beleuchteten Bar, wo diesmal keine Cocktails, sondern Musik gemixt wird. Der für seine Nacktschlagerpartys berühmte Club ist ja derzeit wie große Teile der Berliner Clubszene verwaist bzw. erfindet sich gerade wie etwa das Berghain (wo eine tolle Ausstellung “Studio Berlin“ zu sehen ist) kreativ neu.


Foto: Waltenberger

Die musikalische Gesamtleitung hat Gijs Leenaars inne und alle Hände voll zu tun. Gut sichtbar ist er auf seinem Podest im Vollgutlager, von wo aus er das minutiös wie ein Uhrwerk ablaufende Gesamtgeschehen steuert. Wir stimmen zu, dass „The world to come“ als transdisziplinäres Klangerlebnis und räumliche Installation die Grenzen vieler Chorkonzerte auflöst. Was das durchaus gelungene Experiment mit herkömmlichen Formaten verbindet, ist die ungeheure Professionalität und der spürbare Gestaltungswille aller hoch motivierten Beteiligten. Magische Momente sind zu erleben, die Akustik in den großen hohen Hallen ist atemberaubend gut. Was abgeht, ist die Freiheit, dort länger zu verweilen, wo der einzelne besonders fasziniert ist oder wo die Musik gerade einen innersten Nerv trifft. Auf der anderen Seite habe ich kaum je so knackig kompakte 40 Konzertminuten – so kurz dauert ein Rundgang – erlebt.

Die Antwort auf die Frage „Wie wird die Welt von morgen aussehen?“ freilich bleibt offen.


Foto: Waltenberger


Foto: Waltenberger

Aufführungen am 8. und 9. Oktober 2020 mit jeweils fünf verschiedenen Beginnzeiten von 19h bis 12h30. Zeitslots: 19:00 / 19:15 / 19:30 / 21:15 / 21:30. Ein Parcours dauert ca. 40 Minuten.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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