10000 Gesten, Foto Gianmarco Bresadola
Berlin/ Volksbühne: Tanzstück „10000 Gesten“ von Boris Charmatz, Indoor-Premiere am 01.02.2018
Erstmals nach dem Intendanten-Wechsel von Frank Castorf zu Chris Dercon bin ich in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die Demonstranten und Besetzer sind verschwunden, das bekannte Räuberrad vor dem Haus ebenso und das Ensemble drinnen leider auch.
Der stark angefeindete Belgier Chris Dercon (geb. 1958) – von 2011 bis 2016 erfolgreicher Direktor von Tate Modern in London – hat Kehraus gemacht und setzt auf Gastspiele und Performances aller Art. Auf diese Weise will er das Traditionshaus zu einem Stadttheater ohne Grenzen machen, es ins Heute führen und so auch die Jungend ansprechen.
Tatsächlich strömen an diesem 1. Februar viele junge Leute in den Großen Saal, vermutlich wegen des Tanzstücks „10000 Gesten“ des international bekannten französischen Choreographen Boris Charmatz (47), Direktor vom Musée de la danse / Centre chorégraphique national de Rennes et de Bretagne. Im September 2017 wurde es im Hangar 5 auf dem früheren Flugplatz Berlin-Tempelhof uraufgeführt, da sich die Sanierungsarbeiten im Haus verzögert hatten.
Im aufpolierten Theaterbau erleben wir nun die Indoor-Premiere dieser Ko-Produktion mit Manchester International Festival (MIF), Théâtre National de Bretagne-Rennes, Festival d’Automne à Paris, Chaillot – Théâtre national de la Danse (Paris), Wiener Festwochen, Sadler’s Wells London und Taipei Performing Arts Center.
Eine kleine junge Tänzerin im roten zweiteiligen Glitzeroutfit (Kostüme: Jean-Paul Lespagnard) betritt nun die Bühne, bewegt sich erst langsam, dann schneller und bewegungsreicher. Erst summt sie, dann schreit sie beim Tanzen. Alsbald folgen die anderen, rutschen und kullern über den Boden, beweisen die Übergelenkigkeit ihrer durchtrainierten Körper und entwickeln ein facettenreiches Tanz-Alphabet.
10000 Gesten sollen sie herzeigen, und keine einzige darf sich wiederholen – so die ungewöhnliche Idee von Boris Charmatz. Nachzählen oder kontrollieren lässt sich keineswegs, zumal die mehr als 20 Interpreten/innen – darunter auch einige nicht mehr ganz junge, aber topfitte Damen und Herren – ständig durcheinander wirbeln.
So schnell können die Augen dem Geschehen jedenfalls nicht folgen, und so ist es vermutlich auch gar nicht gemeint. Diese hohe Zahl ist eher eine Metapher für die unendliche Fülle von Gesten und Aktionen, die möglich sind. Allerdings würden wohl nur wenige den Boden ablecken, wie es einige Tänzer/innen tun. Und am großen Zeh lutschen, gelingt den Älteren im Publikum sicherlich auch nicht mehr.
Eine Geschichte erzählen die Tanzenden nicht, vielleicht aber doch. Sie blättern Begebenheiten auf zwischen Ruhe und Erregung, zwischen Liebe und Hass, zwischen Sanftheit und Aggression. Einige betätigen sich gelegentlich als Solisten, andere proben auch mal die Zweisamkeit.
Ist die einstündige Darbietung als Tanz einzustufen? Wie man’s nimmt. Eher ist es eine Bewegungsstudie jenseits aller gelernten Posen und obendrein ein Spiegelbild der heutigen Gesellschaft, die oft mehr das Gegeneinander als das Miteinander praktiziert. Drei Personen im schwarzen Overalls erinnern absichtlich an Terroristen. Die Franzosen haben schon viele Terror-Attacken in ihrem Land erlebt. Echt gewalttätig wird es auf der Bühne jedoch nicht. Nach Charmatz’ Worten öffnet der Tanz „einen mentalen Raum.“
Dennoch schreien sie alle immer lauter, diese sich wild bewegenden Protestler und Wutbürger, die alle Argumente niederbrüllen. Der Hinweis Gesangsausbildung: Christian Kesten wirkt bei dieser Kakophonie wie ein Gag. Sie übertönt bei weitem den Soundtrack: Mozarts Requiem in d-Moll, aufgeführt von der Wiener Philharmonie unter Herbert von Karajan, aufgezeichnet 1986 im Wiener Musikverein.
Erst nach rd. einer halben Stunde hört das Gekreische eine Weile auf. Allgemeines Aufatmen, denn nun ist Mozart zu hören und auch Zeit festzustellen, wie viele der Gesten auch wir unbewusst täglich tun: Über die Stirn und die Haare streichen, an die Nase oder ans Ohr fassen, uns irgendwo kratzen, nervös mit den Fingern zu spielen usw.
Irgendwie sind die Tanzenden also wie Du und ich, steigen über die Zuschauerreihen hinweg, rücken uns auch körperlich ganz nahe. Auf der Bühne verbleiben derweil nur ein Solist und ein Liebespaar. Zuletzt gewinnt wieder Mozarts Requiem die Oberhand, so „als würde man im Moment des Todes vor seinem inneren Auge sein ganzes Leben im Zeitraffer vorbeiziehen sehen“, steht als Erklärungsversuch für das Gesehene im Programm. Das hat was für sich und entspricht einer Äußerung von Boris Charmatz: „Vergänglichkeit ist für mich das zentrale Gefühl des Stücks“.
Interpreten/innen laut Programm: Djino Alolo Sabin, Salka Ardal Rosengren, Or Avishay, Régis Badel, Jessica Batut, Nadia Beugré, Alino Bilokon, Nuno Bizarro, Matthieu Burner, Dimitri Chamblas, Olga Dukhovnaya, Sidonie Duret, Bryana Fritz, Alexis Hedouin, Rémy Héritier, Samuel Lefeuvre, Johanna-Elisa Lemke, Maud Le Pladec, Mani Mungai, Noé Pellencin, Solene Wachter und Frank Willens.
Ursula Wiegand