BERLIN/ TIPI am Kanzleramt: FRAU LUNA – Premiere, 27.10.2016
Sterne und Mond am Himmel über Berlin – Die burlesk-surreale Operette zum 150. Geb. von Paul Lincke hebt ab wie ein Pfeil: Anschnallen bitte!
Gustav Peter Wöhler, Thomas Pigor, Andreja Schneider, Benedikt Eichhorn, Anna Mateur, Gerd Thumser, Cora Frost (oben, v.l.n.r.) und Max Gertsch, Christoph Marti, Tobias Bonn, Sharon Brauner, Fausto Israel, Ades Zabel (unten, v.l.n.r.) © Xamax
Das macht wohl die „Berliner Luft, Luft, Luft“, dass Operetten hier seit längerem bestens reüssieren. Den ersten Vogel der Saison, und wohl auch den mit dem größten himmelstürmenden Auftrieb, hat wohl jetzt das TIPI mit der neuen, so bodenständigen wie skurrilen Produktion der Mondrevue Frau Luna (in der Fassung 1922) abgeschossen. Später folgt dann wie gewohnt im Berliner Operettenreigen die Komische Oper mit Oscar Straus‘ „Die Perlen der Cleopatra“ und Emmerich Kálmáns „Marinka“ im Dezember diesen Jahres.
15 Jahre lang soll die Planungsphase für diese aufwändige Eigenproduktion mit der berlinerischsten aller Berliner „all stellar cast“ gewesen sein. Die Geschwister Pfister wurden engagiert, die ja schon mit dem „Weißen Rössl“ und kürzlich in Nico Dostals „Clivia“ reichlich Operettenerfahrung gesammelt hatten und eine große Schar an Berliner Urgesteins-Originalen, die einem den Abend im TIPI wie ein großes Familienfest fühlen lassen bei viel Glitter, Flitter, lasziven Kostümen und wohl auch einem Schuss Selbstbeweihräucherung.
Max Gertsch, Anna Mateur, Christoph Marti, Tobias Bonn, Thomas Pigor, Meri Ahmaniemi, Marides Laszo (v.l.n.r.) © Barbara Braun
„Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe“ ist sicher untertrieben, denn die Frau Luna ist nicht mehr und nicht weniger als eine flammende Liebeserklärung an die Stadt Berlin geworden wie auch das Publikum mit seiner Begeisterung für die zusammengehörigen Kulturinstitutionen „Bar jeder Vernunft“ und „TIPI“ am Premierenabend seine Reverenz gerade dieser sexy Frau vom Mond bezeugte. Andreja Schneider in Titelpartie sei Dank, von Format an Stimme und Aussehen eine echte Operetten-Diva. Das Management war deshalb auch mutig und der Operettenfreund kann die Mondreise im Tipi am Kanzleramt vom Oktober bis Januar 2017 en suite antreten, Schwerelosigkeit und Mitklatschen zur Berliner Luft garantiert.
„Schlösser, die im Monde liegen“ waren ja seit Jules Vernes Romanerfolg „De la Terre à la Lune“ en vogue. Jaques Offenbach folgte dieser Mode mit der phantastischen Operette „Voyage dans la lune“ ebenso wie bspw. Leos Janacek mit seinen „Ausflügen des Herrn Broucek“. Der Begründer der Berliner Operette Paul Lincke, dessen 70. Todestag sich 2016 ebenso jährt wie der 150. Geburtstag, hat seine „Geschichte der kleinen Hinterhofgesellschaft Berliner Originale mit großer Lust am Abenteuer“ (Libretto Benno Jacobson) in einer Zeit geschrieben, als Zuwanderung in einer unkontrolliert wachsenden Stadt Wohnungsnot, Bauspekulation und Weltuntergangsstimmung herrschten. Sein Stück Berliner Biedersinns mit seinen Walzern, Märschen und Gassenhauern samt einem Schuss Utopie und Heimweh diente den Berlinern damals nicht zuletzt als Stück Selbstvergewisserung, wie Dramaturgin Ilka Seifert anlässlich der Präsentation des Projekts klug darlegte. Die Parallelen zum Heute sind da wohl unübersehbar.
„Berlin, hör‘ ich den Namen bloss“: Frau Luna erzählt ja auch vom typischen „Größenwahn und mangelndem Sachverstand“, der hierzulande herrscht, ist auf der Website des Theaters launig zu lesen. Auf der Bühne begegnen einem auch Träumer und Schrullis, Erotomanen und schwerst Verliebte: Fritz Steppke (köstlich proletoid Benedikt Eichhorn) ist Mechaniker und wohnt zur Untermiete bei der Witwe Pusebach (als Travestie unnachahmlich wie immer Christoph Marti von den Geschwister Pfistern). Er interessiert sich nicht nur für die Pusebach-Nichte Marie (entzückend Sharon Brauner), sondern auch für Fliegerei und Extraterrestrische. In einem Stratosphären-Expressballon, der aussieht wie eine fliegende Badewanne mit Besenpropeller, will Steppke mit seinen Freunden, dem Schneider Lämmermeier (Thomas Pigor) und dem Steuerbeamten a.D. Pannecke (Max Gertsch), nächtens die Fahrt zum Mann im Mond antreten. Für Marie, wie für ihre Tante, die Vermieterin von Fritz Steppke, sind das alles nur Hirngespinste. Sie versuchen die Mondfahrt zu verhindern.
Ortswechsel – die Mondlandung hat stattgefunden: Die Partie wird von Theophil (Tobias Bonn wieder einmal als größtes As der Aufführung) und Frau Groom (Ades Zabel) spröde empfangen. Auf dem Mond schaut es aber lustig aus: Venus (stimmgewaltig Cora Frost), Mars (schwerstgewichtig Gert Thumser) und andere Inergalaktische feiern, was das Zeug hält. Prinz Sternschnuppe (schmalstimmig Gustav Peter Wöhler) verehrt seit Jahrtausenden Frau Luna, die verwitwete Herrin des Mondes (ganz köstlich divenhaft Andreja Schneider). Was für ein Pech, dass da dieser Mechaniker Steppke von der Erde auftaucht, der ihm bei Frau Luna erst einmal die Show stiehlt. Der Haushofmeister auf dem Mond Theophil erkennt in Frau Pusebach eines seiner sexuellen Abenteuer vom „Tiergarten“ in Berlin wieder. Offensichtlich war damals der Verkehr Erde Mond eine ziemlich häufige und einfache Angelegenheit. Theophil, dem es Lunas Zofe Stella (Anna Mateur) wegen ihres Bankkontos angetan hat, treibt allerlei Schabernack. Am Ende finden alle Paare glücklich zueinander. Ob auf dem Mond oder an der Spree, echte Berliner kann bekanntlich so recht nichts erschüttern, und nichts, rein gar nichts geht ihnen über die Berliner Luft. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass es auf dem Mond auch nicht anders zugeht als in der heimischen Mansardenwohnung.
Klar stehen allerlei Klischees und geheime Wünsche, erotische Phnatasien und Konflikte, wie der unseres Mechanikers Steppke zwischen seiner Verlobten Maire und der teuflisch gut aussehenden Frau Luna im Zentrum des Stücks, dennoch geben die Autoren allen Mitwirkenden reichlich Gelegenheit zur Revue und effektvollen showhaften Einlagen. Glorios sind hier die acht Mondelfen zu nennen, die tanzen, singen und vielleicht den witzigsten Teil der Aufführung bilden. Regisseur Bernd Mottl, der ja auch schon „La Cage aux Folles“ in der Bar jeder Vernunft in Szene gesetzt hat, nutzt die Ensembleszenen weidlich und lässt die Qualitäten seiner Stars frei und hell leuchten. Es ist eine im besten Sinne des Wortes altmodische Inszenierung (Werktreue, Nostalgie, Charme), ähnlich wie einstens bei den Operetten im Wiener Raimundtheater, ganz „Samstagsnachmittagsheimatfilmattitüde“ mit Kulissengeruch, Glitzerglanz, Revuegloria und Farbe (Bühnenbild: Friedrich Eggert), Stimmung und einer ganz dem narrativ-skurril bis menschlich berührenden Miteinander gewidmeten Personenregie. Es ist Theater für die Protagonisten und auch wohl als Hommage an viele lan
gjährige Getreue des Ensembles gedacht. Die nicht mehr ganz jungfrischen Zeitgenossen, die in ihrem vorletzten Frühling noch einmal an ein Wunder glauben bzw. auf den Putz hauen wollen und sich letztlich ins Seiende fügen. „Zu Hause ist es doch am schönsten“. Dazwischen darf so alles an Verwechslung, Travestie, Sehnsucht und Aberwahn stattfinden, schräg, camp, spießig und bodenständig zugleich, auf der Bühne wie im Zuschauerraum, wie es sich für ein Stück eines Kreuzberger Komponisten geziemt. Oder wie die Crew das ausdrückt „Wir stellen das Stück nicht auf den Kopf, sondern drücken es liebevoll an die Brust.“ Und dieser Vorsatz ist großteils gelungen, wenngleich man bei der Beurteilung der sanglichen Leistungen gelegentlich doch das eine oder andere Auge zudrücken muss und nicht alle Darsteller auch wirklich gute Schauspieler sind. Da wir es aber mit einer Kabarettbühne zu tun haben, wollen wir zufrieden sein.
Die orchestrale Seite des Abends ist bei Dirigent Johannes Roloff in besten Händen, assistiert von den Berliner Mondharmonikern (Rodrigo Bauzá, Violine; Kim Esther Roloff, Viola; Cehie Kim, Cello; Barbara Oelze, Flöten; Robert Mudranic, Klarinette; Vít Polák, Trompete; Daniel Busch, Posaune; Jürgen Schäfer, Bass/Tuba; Brigitte Haas, Schlagwerk; Immo Hofmann, Schlagwerk und Pilipp Cieslewizc, Keyboard). Für die stimmungsfördernde Choreografie zeichnet Christopher Tölle verantwortlich.
Andreja Schneider, Tobias Bonn, Christoph Marti (v.l.n.r.) © Barbara Braun
Wenn am Ende noch einmal die berühmte Berliner Luft, Luft Luft besungen wird, gibt es kein Halten mehr, es wird mitgeklatscht und gejubelt, als gäbe es kein Morgen mehr. Ein amüsanter Abend und gute Unterhaltung mit einem skurrilen Stück Operette. Nicht mehr und nicht weniger.
Dr. Ingobert Waltenberger