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BERLIN/ TIPI am Bundeskanzleramt: „ACH DU – MEIN ACH!“ – Oden an die Melancholie. GEORGETTE DEE begleitet von Terry Truck. Eine Diva in den besten Jahren

06.06.2016 | Konzert/Liederabende

BERLIN / TIPI am Bundeskanzleramt „Ach Du – mein Ach!“ – Oden an die Melancholie, Georgette Dee begleitet von Terry Truck;, 5.6.2016

Eine Diva in den besten Jahren

 „Du sollst mein Glückschwein sein, ohne Wenn und Aber, ohne Zirkus, ohne Gelaber.“ (Dee)

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Georgette Dee. Copyright: Pierre Wyss

 In Berlin gehört „the pilgrimage“ zu Georgette Dee mindestens einmal im Jahr ebenso zum absoluten Muss wie einstens zu Jessye Norman bei den Salzburger Festspielen. In beiden Fällen galt/gilt als valeur sûre, ein absolut außergewöhnliches Konzert erleben zu dürfen. So war das auch gestern wieder einmal, dass wider alle Schwerkraft und Jahre Georgette Dee für intensivste und ins Mark gehende Momente sorgt, wie man sie sonst im heutigen Theaterbetrieb kaum erfahren kann.

Das neue Lieder- und Geschichtenprogramm, deren dritte Aufführung der Rezensent besucht hat, dreht sich um die „sweet melancholy“, einen Zustand des klarsichtigen Weltschmerzes. In der Melancholie verbinden sich Freude und Leid zu einem Zustand, in dem sich Schwere und Leichtigkeit, Sinnlosigkeit und Galgenhumor die schwebende Waage halten. Im schwarzen Samtkleid und mit Eiswürfeln gekühltem Dekolletee erzählt Georgette Dee von den Abenden auf der Berliner Terrasse mit ihren Freundinnen Frieda, Mira, Locke, dem Spanier, Jason und anderen Begegnungen aus dem prallen Leben gegriffen nach dem Motto: „Viel im Leben geht schief und eigentlich alles, wenn man nur lange genug wartet.“ Die U-60 Generation berauscht sich nicht nur an „Spargel-, Waldmeister- und Sauerampfer“ Fahrradtouren, Weihnachtskeksen und mariniertem Filetfleisch, bei einem halben Liter Himbeergeiste kann es manchmal schon handfester zugehen. Wo es Liebeskummer gibt, wird das 18-jährige Junggemüse, die einem Havelländer „Blondstier“ auf den Leim gegangen ist, im breiten schwesterlichen Schoß getröstet. Denn: „Wer sind wir denn, dass wir den ersten Stein werfen?“ Um augenzwinkernd hinzuzufügen: „Den zweiten vielleicht schon.“ Natürlich muss das Sofa in der großen Wohnküche bevölkert werden, sentimental sind wir ja nicht, „schließlich wollen wir, dass der Bullerofen knackert“.

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Georgette Dee. Copyright: Pierre Wyss

Die bild- wort- und lautereich erzählte, geächzte und gestöhnte hochvirtuose Geschichte bietet freilich nur den Rahmen für ein umfangreiches Liedprogramm, dass diese „Callas aus Wedding“ wie keine zweite flüstern, hauchen, singen, jubeln, schreien und wehklagen kann. Georgette Dee wurde dabei – wie immer – von dem ganz außerordentlichen Pianisten Terry Truck am Bechstein-Flügel symbiotisch begleitet. Truck steckt die Hälfte aller bei Großlabels engagierten Tastenkünstler sowieso in den Sack. Wie er große Passagen des Textes improvisatorisch klanglich untermalt, macht ihm soundso keiner nach. Als hochsensibler Begleiter für große Musik darf Truck Georgette Dee bei Titeln wie „Mir geht’s gut“ (Brel), „Somerwhere there’s a someone“, „My old friend the blues“ oder „Moondance“ quasi auf Tönen wie auf Wolken tragen. Weitere Chansons und Lieder des Abends stammen aus der Feder von Hollaender („Du hast ja eine Träne im Knopfloch“), Brecht/Eisler („On the world’s kindness“, „Three Elegies“), Richard Strauss („Morgen“), Franz Schubert („Wiegenlied“) und Weill („Lost in the stars“).

Zwischendurch werden noch die Vorsokratiker aufs Korn genommen („Heraklit eine asketische Zicke“, „Empedokles ein ganz eitler Sack mit kupfernen Sandalen“), bevor auch die Religionen und der Tod ihre „Fettn“ abbekommen.

Ganz zum Schluss widmete Georgette Dee das letzte Lied aus Schuberts „Schöner Müllerin“ allen, die in den letzten 200 Jahren beim Anhören geweint haben und die es noch in aller Zukunft tun werden. Wie Georgette Dee dieses Lied pianissimo in den Saal flüstert mit unendlich tief empfundenem Wissen um Vergänglichkeit, hoher Musikalität und „der Träne im blonden um den Finger gewickelten Haar“, macht sprachlos. Danke für diesen Moment ganz großer Kunst!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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