BERLIN / TIPI am Bundeskanzleramt: 20 Jahre CABARET – Das Berlin-Musical, Jubiläumspremiere; 13.7.2024
Glanzvolle Gala und ein unvergesslicher Theaterabend
Foto: Barbara Braun
20 Jahre sind es nun, dass Cabaret – dieses geniale wie authentische Stück zwischen besoffener Berliner Lebensluft, erotische Wonnen versprechenden Nachtclubs, zwischen der ausgelassenen Atmosphäre am Berliner Nollendorfplatz und banger Beklemmung durch das Aufziehen des Nationalsozialismus – zu den sommerlichen Highlights der Berliner Theaterszene gehört.
Begonnen hatte es in 2004 in der Bar jeder Vernunft, dieser so morbid schönen Berliner Institution mit facettierten Spiegeln, sanftem Gold und kuscheligen Logen in Samtrot bei nur 300 Sitzplätzen. Da feierte Cabaret am 23.10.2004 in der Regie und Choreographie von Vincent Paterson ihre Premiere. Endlich war dieses Musical, berühmt geworden durch die Harold Prince Broadway Produktion mit Lotte Lenya als Fräulein Schneider und noch mehr durch den Bob Fosse Film mit Liza Minelli als Tingeltangel Sängerin Sally Bowles in Berlin angekommen und dank einer zeitlos praktikablen Bühnenadaption heimisch geworden. An die 300.000 Besucher haben das beschwingt traurige Musical nach dem Buch von Joe Masteroff (das wiederum auf John van Drutens Stück „Ich bin eine Kamera“ und den Erzählungen von Christopher Isherwood fußt) zuerst in der Bar jeder Vernunft und ab 2010 im TIPI in unterschiedlichen Besetzungen bislang gesehen, haben zu den Hits „Life is a cabaret“, „Maybe this time“, „Money Money“, „Die Ananas“ oder „Der morgige Tag ist mein“ mitgeschunkelt, mitgesungen, gelacht oder geweint.
Dabei bietet dieses TIPI, das idyllisch an der Spree in Greifweite zum politischen Epizentrum der Hauptstadt, dem Bundeskanzleramt liegt, und genau am historisch markanten Kreuzungspunkt verortet ist, wo einst das Magnus-Hirschfeld-Institut und die Krolloper aus unterschiedlichen Gründen Zeitgeschichte geschrieben haben, einen idealen Rahmen.
Nacht für Nacht verwandelt sich im Schatten der alten Bäume des Tiergartens die Szenerie in den verruchten Kit Kat Club der Goldenen 20-er Jahre an der Wende zu den weniger lustigen Dreißigern, macht der jüdische Obsthändler Schultz der Zimmervermieterin Fräulein Schneider einen Heiratsantrag, toben sich Sally Bowles und Fräulein Kost zwischen Matrosen und vergnügungssüchtigen Nachtschwärmern aus, hilft Ernst Ludwig mittels von Paris nach Berlin geschmuggelter Gelder den politischen Umsturz vorzubereiten und versucht Clifford Bradshaw das alles literarisch auf der Schreibmaschine zu verewigen, nicht ohne selbst in den erotisch politischen Strudel hineingezogen zu sein. Bis alles Hoffen und jeglicher prosperierende Aufschwung jäh mit der Weltwirtschaftskrise 1929 endet. Was dann kam, wissen wir alle.
Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins, aber die Muster der Verrohung der damaligen Zeit und dem für viele harten Heute sind nicht von der Hand zu weisen. Pandämie, Inflation, materielle Unsicherheit und Krieg haben Spuren in der (westlichen) Welt hinterlassen, die sich an den Wahlurnen manifestiert, aber auch im rauer gewordenen Miteinander auf der Straße. Und so ist Cabaret nicht nur ein sentimentales, im politischen Mahlstrom des aufkeimenden Nationalsozialismus aufwühlendes Musical über eine zu Ende gehende Zeit von hundert Jahren, sondern gerade heute in ihren Grundfesten aktuell. Die Zukunft: Wie damals ein geheimnisvoll chiffriertes Buch mit ungewissem Ausgang. Vielleicht weiß ja der Conférencier mehr, der alle menschlichen Schwächen und den Zirkus des Lebens mit seinem zynisch mephistophelischen Lächeln kommentiert.
So ist auch die Initiative des Hauses gemeinsam mit dem Berliner Senat, zusätzlich zu den Abendvorstellungen einige Aufführungen tagsüber für Schülergruppen einzuschieben (bei einem Unkostenbeitrag von nur 5 Euro pro Person), eine blendende Idee, serviert sie doch einen ernsten, pädagogisch wertvollen Stoff im unterhaltsamen Kleide.
Dass das TIPI und die Bar jeder Vernunft bis heute ohne einen Euro an Subvention der öffentlichen Hand auskommen, sei an dieser Stelle ebenso bemerkt. Mit einem tollen Konzept (gute Unterhaltung, grandiose Gastronomie und einladende Gastfreundschaft) und einigen Sponsoren lässt sich offenbar auch heute mitreißendes Theater machen, das von der Operette, über Chansonabende, Musicals, Burleske, Comedy und Kleinkunst in ihrer kondensiertesten und dichtesten Form reicht und dabei Unterhaltung vom Feinsten ohne intellektuelle Rösselsprünge bietet.
Wie geschickt und pragmatisch das auch im Falle des Musicals Cabaret funktioniert, sei hier kurz skizziert: Die instrumentale Seite basiert auf der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker. Das Fünfergespann Damian Omansen, Daniel Busch, Björn Sickert, Casper Hachfeld und Dragan Radosavijevic unterlegen den Melodienreigen als auch die fetzigen Clubnummern temperamentvoll bis elegisch mit Klavier, Akkordeon, Violine, Posaune, Kontrabass, Gitarre, Tuba, Schlagzeug und singender Säge.
Das Bühnenbild – nahezu ein Kultklassiker ist der kleine Zug geworden, der sich auf Schiene über die kleine Bühne kringelt und die Ankunft des Schriftstellers Bradshaw in Berlin veranschaulicht. Das Bühnenbild mit Silberglittervorhang und leicht verschiebbaren Elementen, die den Raum flugs via bemalte Kulissen in das Foyer der Wohnung des Fräulein Schneider in der Nollendorfstrasse 17, zweiter Stock links oder das Zimmer des Schriftstellers verwandeln, sind wunderbar in ihrer blumigen Patina. Die Atmosphäre der damaligen Zeit bilden sie stimmungsvoll nach. Dass das alles heute wie vor zwanzig Jahren noch wie am Schnürl funktioniert, ist dem Kreativteam Lutz Deisinger und Thimo Pommereining zu verdanken.
Foto: Barbara Braun
Die gestrige glanzvolle Jubiläumspremiere – wortreich mit Reden von Hausdame Marlene, Klaus Wowereit bis zu Katharina Mehrling garniert – bot eine hervorragende Besetzung. Zwei der neun Protagonisten sind als quasi „Veteranen“ des Stücks und schon von den Anfängen an mit von der Partie. Die unverwüstliche Regina Lemnitz, die schon 750-mal das auf Anstand bedachte Fräulein Schneider gespielt, gesungen, in ihrer Zerrissenheit zwischen einer letzten Altersliebe und der Angst von den Konsequenzen eines antisemitischen Regimes auf ihre Verlobung verzichtet und damit an ihren Träumen und Glück scheitert, berührend dargestellt hat. Und Torsten Stoll in der Rolle des sich politisch mit Hakenkreuzbinde outenden Ernst Ludwig, zuerst smarter Verführer, zuletzt nur noch brutaler Schläger, ist der einzige, für den, wenn ich das Programmheft richtig lese, es keine Alternativbesetzung gibt.
Mit Maria-Danaé Bansen verfügt das Haus über eine quirlige, tanz- wie kraftvoll singende Sally Bowles, die mit Berliner Schnauze, leuchtenden Augen, geschmissenen Beinen und gurrflirtender Stimme beinahe an das Idol Liza Minelli heranreicht. Am Ende schafft sie es nicht, aus ihrer engen Welt auszubrechen und Clifford Bradshaw ins Ausland zu folgen. Das gemeinsame Kind wird abgetrieben, sie kehrt desillusioniert, aber in ihrem abgezirkelten, final spießigen und scheinbar freien Universum, auf die Bühne des Kit Kat Club zurück. Längst müssen alle schon schauen, wie sie materiell über die Runden kommen, die Katastrophe des Krieges rückt näher.
Ganz wunderbar ist der fesche Kärntner Alexander Donesch; mit dem mich der gemeinsame Geburtsort verbindet; als Englischlehrer und Autor Clifford Bradshaw (Spiegelbild des Schriftstellers Christopher William Bradshaw-Isherwood), dessen Freundschaft mit Sally Bowles und als Mitglied des zusammengewürfelten Haufens, der damals tatsächlich in der Nollendorfstraße bei Frau Meta Thurau logiert hat, mit dem fluchtartigen Verlassen Berlins 1933 jäh endet. Ganz in der Nähe der „Pension Schneider“ befand sich ein Haus in der Motzstraße 15, das einst die berühmt berüchtigte Schwulenbar Eldorado beherbergte. Das Haus steht auch heute noch, beherbergt aber statt nächtlicher Umtriebigkeit einen Supermarkt, der biologische Kost anbietet.
Auch die übrige Besetzung mit dem Conférencier Mathias Schlung, Dirk Schoeden als Herr Schultz, Jacqueline Macaulay als freizügiges Fräulein Kost, Christoph Jonas als Bobby und Daniel Sellier als Max wusste ebenso mitzureißen wie die Kit Kat Girls Kiara Brunken (Helga), Michael Fernandez (Mausi), Sarah Fleige (Lulu) und Cindy Walther (Frenchie).
Und wir wollen dem TIPI, seinem Chef und dem gesamten Ensemble zu diesem außerordentlichen und gelungenen 20-jährigen Jubiläum herzlich gratulieren, das stilecht mit Schmankerln, inspiriert aus der Küche der 20er Jahre, aufwartete. Einem vertrauten Familienfest gleich, trafen sich Treue und Lokalprominenz, Theaterleute und Kunstbeflissene. Und huldigten dem Genius loci, der mit seinen Botschaften u.a. für Freiheit, Toleranz und Respekt unverzichtbarer denn je geworden ist.
Und wenn die jetzt nachbarschaftlich gelegene Fußball-Fanmeile ab morgen Geschichte sein wird und lautstarke Feste in der Schwangeren Auster (alias Haus der Kulturen der Welt) sommerhitzig verebbt sind, muss man sich auch nicht mehr über das nahe Wummern der Bässe ärgern, die so manch leisen Passagen und Dialogen ihren elegischen Zauber nahm.
Wichtige Infos: CABARET – das Berlin-Musical feiert sein 20-jähriges Jubiläum, gespielt wird vom 13. Juli – 6. Oktober 2024, Di. – Sa. 20:00 Uhr, Einlass ab 18:30 Uhr, So. 19:00 Uhr, Einlass ab 17:30 Uhr.
Fotos: Barbara Braun
Dr. Ingobert Waltenberger