BERLIN / Theater im Delphi: L’ITALIANA IN ALGERI von GIOACHINO ROSSINI – halbszenisch in historisch informierter Aufführung
20.10. 2022 (Werner Häußner)
Copyright: Anna Tiessen
Gioachino Rossinis „L‘Italiana in Algeri“ wurde in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum relativ selten neu inszeniert. Wer sich noch an den skurril-märchenhaften Orient in der legendären, in Europa weitgereisten Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle erinnert, wird die prallen Theaterqualitäten des Stücks nicht in Abrede stellen können. Aber vielleicht auch den Grund vermuten, warum die „Italienerin in Algier“ heute nicht mehr so en vogue ist: Das klischeehafte Bild der „Muselmanen“ mit ihrem Harem und die abwertend geschilderten, etwas unterbelichteten „Türken“ können heute, im Zeitalter einer berechtigten Dekolonialisierung, ein unangenehmes Gefühl erzeugen.
Wer jedoch den intellektuellen Transfer schafft, die „Muselmanen“ des Stücks als literarische Fiktion von real existierenden Muslimen zu unterscheiden und die ganze Orient-Camouflage als solche zu durchschauen, wird zu ganz anderen Ergebnissen kommen können. Dann sind nämlich die „turchi“ eine in Zeiten der Zensur probate Chiffre, um im Flair des Exotischen reale Machtverhältnisse zu enttarnen und in Figuren wie dem Mustafa Bey, aber auch dem italienischen Begleiter Taddeo patriarchale Strukturen und Verhaltensweisen zu kritisieren. Immerhin ist Isabella eine starke, tatkräftige und kluge Frau, die erstaunliche Sätze im Munde führt und sich weder von dem verliebten Potentaten, noch von dem ängstlichen Taddeo, aber auch von ihrem „Cicisbeo“ Lindoro etwas gefallen lässt. Genug Stoff sogar für eine feministische Lektüre, denn Isabella sorgt so ganz nebenbei nicht nur fürs eigene Wohl, sondern auch für das der vom Bey ausgemusterten Ehefrau.
Wenn die „Italiana“, wie jetzt in Berlin, in einer auf drei rote Kisten vor nacktem Mauerwerk reduzierten Szenerie und neutralen Kostümen von Pauline Heitmann aufgeführt wird, treten diese aktuellen Züge umso besser hervor. Regisseur Dennis Krauß hat sich in seiner aufs Notwendigste beschränkten Einrichtung auch jeder Deutung enthalten, lässt die Figuren aus sich, oder besser, aus der Musik sprechen. Dabei erweist sich Rossinis auf exotische Effekte verzichtende Musik als theaterwirksam genug, um die drei Stunden nicht zäh werden zu lassen.
Bei den vom Ensemble Eroica Berlin unter dem mit Rossini wohlvertrauten Jakob Lehmann organisierten drei Vorstellungen ist es aber auch die spezielle Praxis des Musizierens, die einen spannenden Abend garantiert. Gespielt wird im Delphi-Theater an der Grenze von Weißensee zum Prenzlauer Berg, einem 1929 erbauten Stummfilm-Kino, das 1959 geschlossen und u.a. als Lager genutzt wurde, bis es 2012 von dem Künstler-Duo Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zu einem neuen Kunst- und Kulturort entwickelt wurde. Im unrestaurierten Jugendstil-Tonnengewölbe des Kinosaals mit einer Bar auf der Rückseite sitzt das Publikum unter verblassten Farben und Wasserflecken an der Decke an alten Tischen und kann wie in einem Varietè der Vorstellung folgen.
Die Musik spielt im Raum vor der Bühne und klingt präsent und transparent – ungetrübter Genuss der fein ziselierten Details von Rossinis Partitur ist garantiert. Und noch deutlicher hört man die Verzierungen und liebevoll ausgearbeiteten Phrasierungs- und Dynamik-Finessen, denen sich die jungen Musikerinnen und Musiker des Orchesters widmen. Denn Eroica Berlin erhebt den Anspruch, Rossinis Musik historisch informiert aufzuführen. Das sorgt in der Tat für ein frisches, detailreiches, im Vergleich zu üblichen Darbietungen kühleres, brillantes, aber auch luftiges Klangbild. Mit wenig Vibrato gespielte Darmsaiten, jeweils ein an den beiden Flanken und im Zentrum des Orchesters platzierter Kontrabass, etwas schwerer ansprechende, aber warmtönige Hörner und eine aus Hammerklavier, Cello und Kontrabass bestehende Continuogruppe versuchen, den Klang der Rossini-Zeit in unsere Gegenwart zu holen. Die beiden Schlagzeuger nutzen herrlich blechernes Metallzeug „alla turca“, darunter einen selbst gebauten Schellenbaum, und sorgen damit für zugespitzte Akzente – wie überhaupt die Tutti scharf und kurz gefasst sind und damit einen „lärmigen“ Eindruck von Rossinis Musik nicht aufkommen lassen.
Copyright:Anna Tiessen
Die Streicher sitzen einander gegenüber, wie es auf alten Stichen zu sehen ist,und haben so – zumindest in den ersten Violinen – unmittelbaren Kontakt zu Bühne. In der Ouvertüre macht die Oboistin Katharina Haritonov aus ihrem ersten Solo ein verziertes Bonmot, das gleich deutlich macht: Hier wird so musiziert, wie wir es aus Quellen des frühen 19. Jahrhunderts erfahren. Auch die Agogik und die genüsslichen Ritardandi, die Portamenti und die kurzen, trockenen Staccati zeigen, dass sich die Musiker eingehend mit früheren Praktiken beschäftigt haben. Das geht bis zum „battuto“, wenn die Geiger mit ihren Bögen auf die Saiten schlagen und einen geräuschhaften Effekt erzeugen. Ob das alles so war und so sein muss, sei dahingestellt – aber eine Diskussion darüber ist allemal spannend und fruchtbar. Und Rossinis Musik bekommt dieser Zugang so gut – man höre nur, wie vielgestaltig und harmonisch interessant auf einmal die einleitenden Pizzicati des Preludio wirken –, dass man sich fragt, warum so etwas nicht bei „Rossini“-Festivals wie Pesaro zur Diskussion gestellt wird.
Zur Debatte sollte auch der spezifische Belcanto stehen, denn in der Technik des Singens stehen Fragen an, die über bloßen Geschmack hinausgehen. Lockerheit und Modulationsfähigkeit der Stimme, ein entspannter Ton über alle Register, klare Artikulation, ein gut gestütztes, frei gebildetes Piano, ein unangestrengt in den Raum projizierter Klang und die Fähigkeit, die vielfältigen Formen musikalischer Verzierung einwandfrei auszuführen, gehören dazu. In Italien neigt man derzeit dazu, Stimmen auf harte Strahlkraft hin auszubilden, im östlichen Europa besetzt man italienische Oper, gleich ob von 1810 oder 1910, mit einander ähnlich klingenden, auf Kraft, üppigen Ton und nicht selten ausladendes Vibrato hin geformten Stimmen. Adäquater Rossini-Gesang, der einlöst, was stilistisch gefordert wird, ist also trotz vieler Fortschritte in den letzten Jahrzehnten immer noch rar.
Eine erfreuliche Ausnahme ist in Berlin mit Hannah Ludwig zu erleben. Sie bringt viele der Vorzüge mit, die eine virtuose Rossini-Stimme ausmachen, prunkt als Isabella mit leuchtendem, auch im tiefen Register nicht extrem eingebrustetem und gut verblendetem Ton, verfügt über Beweglichkeit, aber auch den nötigen dramatischen Impetus. Eine Sängerin, die Freude macht. Auch die feine Stimme von Laura Murphy als Zulma lässt viel Potenzial entdecken, während Polly Ott als unglückliche Ehefrau des Mustafa Bey den Ton eher kopfig und mit forcierter Brillanz bildet – was eigentlich nicht nötig wäre.
Miloš Bulajić zeigt in „Languir per una bella“ respektable Verzierungskünste, aber die Stimme ist angespannt und bisweilen druckvoll gebildet, der Einsatz der voix mixte tendiert zum Falsett – insgesamt aber verdient sich der Tenor, der viel an der Lindenoper gesungen hat, Hochachtung für seinen Einsatz in dieser anspruchsvollen Rolle. Bassbariton David Oštrek verfügt über eine ansprechend gebildete, zu Tönen mit genauer Kontur, doch nicht zu lockerer Fülle neigende Stimme. Seine Artikulation ist untadelig, das ornamentale Gestalten bringt ihn ebenfalls nicht aus dem Konzept. Ein viriler Patriarch, machtbewusst, von Empathie kaum angefochten, empfänglich für die „Pappataci“-Finte, doch zu eitel, einzugestehen, dass er nicht weiß, worum es geht – Oštrek macht aus seiner Rolle einen lebensvollen Charakter.
Das versucht auch Manuel Walser als Taddeo, den er weniger als Trottel, eher als Opportunist anlegt und damit auf dem richtigen Weg ist. Adam Kutny als Hajek ist ein Beispiel einer mächtig-klangvollen, aber ungeschliffenen Stimme. Während der Neue Männerchor Berlin eher dünne Stimmfäden spannt, vereinen sich die Solisten in den genialen Ensembles in crescendierendem Entsetzen, das ihnen Hirn und Verstand zu rauben droht, und unter den feurigen Steigerungen des Orchesters und dem Krachen des Schlagzeugs bleiben nur noch cra cra, bum bum und din din. Da zeigt sich Rossini als Meister eines Humors, der in seiner überdrehten Absurdität wie kaum ein zweiter einfängt, wie brüchig unsere armselige menschliche Erkenntnis daherkommt und wir vielleicht gut daran tun, wie der gütig von den Stahlstichen lächelnde Maestro das Dasein mit heiterer Ironie und wissender Menschlichkeit zu nehmen.
Werner Häußner