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BERLIN/ Staatsoper/ Staatsballett: „ONEGIN“, die 100. Aufführung in der Staatsoper

08.10.2022 | Ballett/Tanz

Berlin / Staatsballett Berlin: „ONEGIN“, die 100. Aufführung in der Staatsoper

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Polina Semionova, Alejandro Virelles. Foto: Yan Revazov

Manchmal scheint die Zeit stehen zu bleiben, und die Zuschauenden können nur noch staunen. Denn zur 100. Berliner Vorstellung von John Crankos „ONEGIN“ seit der Premiere am 09. November 2003 ist auch die Staatskapelle Berlin, dirigiert von Jonathan Stockhammer, zur Stelle und sorgt für feinsten Tschaikowsky-Klang.

Doch das eigentliche Interesse gilt immer der Tatjana. Am 9.November 2003 hatte Nadja Saidakova diese Hauptrolle getanzt. Polina Semionova wurde ihre Nachfolgerin. Startänzer und Intendant Vladimir Malakhov hatte sie als Siebzehnjährige aus Russland nach Berlin geholt und sie alsbald zur Ersten Solistin erklärt. Am 19. Mai 2004 tanzte sie an der Seite von Roland Savkovic zum ersten Mal die Tatjana. Schnell war sie der Liebling des Publikums und wurde es wieder, als sie nach Malakhovs Weggang und zurück aus Amerika als “special guest“ erneut auf Berlins Bühnen zu sehen war.

Nun verkörpert sie in dieser Jubiläumsaufführung die Tatjana, topfit und als gestandene Frau mit besonderer Ausstrahlung. Nach wie vor überzeugt sie durch Können und Rollengestaltung. Intensiv muss sie trainiert haben, um nach der Geburt von zwei Kindern wieder das frühere Leistungsniveau zu erlangen. Puschkins Tatjana ist ihr wohl auf den Leib geschrieben, doch nicht nur mit diesem Stück begeistert sie immer wieder das Publikum.

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Polina Semionova, Alejandro Virelles. Foto: Yan Revazov

Die Zuschauer/innen waren jedoch feierfreudig und hatten schon vorher applaudiert, als die Compagnie munter herumwirbelte. Denn anfangs geht es in diesem Ballett eher um Tatjanas lebenslustige Schwester Olga, an diesem Abend spritzig dargeboten von der jungen Französin und Demi-Solotänzerin Alizée Sicre.

Olga freut sich auf die Hochzeit mit dem Dichter Lenski. Den tanzt vorzüglich ihr Landsmann und Solotänzer Alexandre Cagnat, der auch schon in anderen Rollen überzeugt hat. Bereits 2021 bildeten die beiden in „Onegin“ dieses Paar und werden auch schauspielerisch dem Geschehen vollauf gerecht. Erwähnt seien darüber hinaus Barbara Schroeder als Witwe Larina, die Mutter von Tatjana und Olga sowie Marina Böckmann als Amme.

Dennoch zieht Polina Semionova als Tatjana, die lesend auf dem Boden liegt, bald alle Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Mädchen vom Lande, das sich bisher nicht für Männer interessiert hat, verliebt sich urplötzlich in Onegin, einen Adligen aus der Stadt, den Lenski mitbringt. Völlig von dieser ersten Liebe überrumpelt, schreibt sie ihm nachts bekanntlich einen Sehnsuchtsbrief.

Polinas Partner ist – wie schon öfter – Alejandro Virelles, und beide harmonieren bestens. Im Spiegel erscheint er Tatjana, und sie träumt vom Glück mit ihm. Wie zärtlich ist jetzt Onegins (Alejandros) Gesicht, wie innig tanzt er den Liebhaber. Immer wieder hebt er sie empor, zuerst behutsam, dann feuriger. Der lange weiße Tüllrock flattert um ihren schlanken Körper. Traumhafte , sicherlich intensiv geübte Minuten sind das, sie sollten eigentlich gar nicht aufhören. Still und konzentriert folgen die Anwesenden diesem wundervollen Pas de deux, bei dem die träumende Tatjana durch die „Liebeslüfte“ fliegt. Paartanz in Vollendung, ausdrucksstark und auf ganz hohem Niveau.

Doch wie groß ist Tatjanas Enttäuschung tags darauf. Aus dem zärtlichen nächtlichen Lover wird wieder der hochmütige Herr aus der Stadt, der das naive Landmädchen rüde belehrt und schließlich ihren Liebesbrief zerreist. Beschämt und in Tränen steht die Unglückliche da. Doch Onegin verachtet auch die tanzenden Dorfleute und sogar seinen Freund Lenski. Dem spannt er die Olga aus und wirbelt mit ihr grinsend durch den Saal. Beide machen Tatjana und noch mehr Lenski lächerlich, und dessen Gesicht spricht Bände. Wütend ohrfeigt er Onegin, und nun ist Schluss mit der lustigen Feier. Ein Duell ist angesagt.

Lenski, von Olga und Onegin dermaßen gedemütigt, weiß, dass er gegen Onegin keine Chance hat. Doch das ist im egal, sein Leben ist kaputt, und Alexandre Cagnat tanzt das herzerweichend. Tapfer verweigert der maßlos Enttäuschte die Versöhnung mit Onegin und auch die mit Olga. Onegins Schuss trifft den Ungeübten, doch das wird nicht genau gezeigt. Hinter einem Vorhang bricht Lenski zusammen, und Onegin flieht.

Der nächste und letzte Höhepunkt wird das unerwartete Wiedersehen von Onegin und Tatjana nach vielen Jahren. Sie ist jetzt die Gemahlin von Fürst Gremin, dargestellt von Yevgeniy Khissamutdinov. Der, im Krieg schwer Verwundete, tanzt wohl absichtlich nicht munter umher. Stattdessen trägt er seine Tatjana sozusagen auf Händen und hebt sie kraftvoll immer wieder empor. Zwei reife, sich liebende Menschen, Tatjana in kostbarer roter Robe, er in Uniform. (Bühne und Kostüme: Elisabeth Dalton).

Zufällig erscheint nach vielen Jahren Onegin auf diesem Fest und traut seinen Augen kaum. Auch Tatjana erkennt den leicht Ergrauten sofort wieder. Ein Tanzschauspiel sondergleichen entwickelt sich, nachdem der Fürst zur Reise aufgebrochen ist. Onegin rutscht auf Knien demütig zu Tatjanas Füßen, umfasst ihre Beine, hebt die Widerstrebende empor. Jetzt bettelt er um ihre Liebe.

Tänzerisch wird das zum Drama pur, denn sie liebt ihn noch immer. Sie gibt das auch zu, weigert sich jedoch ihm zu folgen. Nun zerreist sie seinen Liebesbrief genau so, wie er es einst mit ihrem getan hat. Ein Furor der Verzweiflung wird hier glaubwürdig getanzt, das Schicksal zweier Menschen, die (vielleicht) das wahre Glück nicht gefunden oder, wie Onegin, hochmütig verschenkt haben. Die Staatskapelle Berlin rauscht nochmals dramatisch auf und mischt sich mit dem heftigen Jubel des Publikums.

Ursula Wiegand

Es folgen noch weitere Onegin-Vorstellungen, jedoch in anderer Besetzung.

 

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