BERLIN / Staatsoper Unter den Linden WOZZECK; 14.12.2025
Jubiläumsvorstellung zum 100. Geburtstag der Uraufführung

Foto: Stephan Rabold
„Dass wir jetzt auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung am selben Ort, in der Staatsoper Unter den Linden, mit einer neuen Vorstellungsserie einer szenisch eindrucksvollen Produktion in hervorragender Besetzung an die Öffentlichkeit treten, ist natürlich ein besonders schöner Brückenschlag zwischen Geschichte und Gegenwart dieses traditionsreichen Hauses.“ Christian Thielemann
Alban Berg sah Georg Büchners auf einem historischen Kriminalfall aus dem frühen 19. Jahrhundert beruhenden Wozzeck 1914 in den Wiener Kammerspielen. Er machte sich unmittelbar daran, eine Oper darüber zu planen und zu schreiben, indem er Szenen des Dramas auswählte, zusammengeführte und verkürzte. Den knappen Sprachduktus hingegen behielt Berg bei. Erst 1925 erfolgte der Druck, was ohne finanzielle Unterstützung der Widmungsträgerin Alma Mahler-Werfel nicht möglich gewesen wäre. Am 14. Dezember 1925 fand die Uraufführung dieser dreiaktigen Oper in 15 Szenen unter der Leitung von Erich Kleiber in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin statt.
Die Handlung der Sozialtragödie Wozzeck ist zeitlos gültig und dreht sich um Armut, Machtmissbrauch in streng hierarchischen Strukturen, gesellschaftlich-religiös motivierte Normen der Unterdrückung (ehelos geborene Kinder), Sehnsucht und Glücksverlangen, sexuelle Untreue, Schuld und Sühne, Mord und schließlich um die Frage der Zurechnungsfähigkeit eines psychisch kranken Täters.
Ja „der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wann man hinunterschaut …“. Diese Worte Wozzecks im 2. Akt spiegeln die Verzweiflung des einfachen Soldaten Wozzeck, der – allseits Ziel von Spott und Missachtung – vergeblich alles daran setzt, sich, Marie und das Kind durchzubringen.
Was bei Alban Bergs trotz freier Tonalität der im wesentlichen spätromantischen Vertonung mit ihrer erinnerungsmotivisch eng verzahnten Wort-Tondurchdringung so frappiert, ist das tiefenpsychologische Nachzeichnen des zunehmenden Wahns und zugleich Verklärung des Protagonisten. Bergs eigene negative Erfahrungen im Ersten Weltkrieg haben ja maßgeblich zur Identifikation des Komponisten mit seiner Mitleid erregenden Figur beigetragen.
Denn Wozzeck sind wir irgendwie alle. Wer wäre denn noch nicht in der Zwangsjacke des Lebens gesteckt, unentrinnbar unbeeinflussbaren Mächten wie der Begrenztheit körperlicher und geistiger Kraft, knapper materieller Mittel, Krankheit, Mobbing, Verletzungen in Beziehungen, der Willkür von Vorgesetzten etc. etc. ausgeliefert gewesen, und sei es nur für eine kurze begrenzte Zeit? Genau dieses Universelle der Oper macht es aus, dass wir uns auch abseits historischer Parallelen der Zeit der Entstehung und des Heute immer wieder mit ihr auseinandersetzen sollten.
Gespielt wurde die Jubiläumsaufführung in einer minimalistischen Inszenierung für das Schillertheater als Ausweichquartier aus dem Jahr 2011 von Andrea Breth. Nach der Premiere erntete sie als „eine messerscharfe Versuchsanordnung der Mechanik des Bösen“ gute Kritiken. Auch heute funktioniert diese unter der Spielleitung von Caroline Staunton wieder aufgenommene Produktion als hyperrealistische bis reißerische Zurschaustellung der Grausamkeiten und Pervertiertheit im menschlichen Miteinander des Mangels. Der Personenregie haftet die Trostlosigkeit einer pathologischen Studie an. Breth zeigt in ihrem Kammerspiel des Verfalls kaputte bis irre Typen, die teils von einer Art kranken Mission überzeugt, teils ihren Hormonen ausgeliefert, sich am schwächsten Glied des persönlichen Umfelds in unvorstellbarer Bosheit und Gemeinheit schadlos halten.
Bis auf genau den Wozzeck, der als einziger Menschlichkeit kennt und für seine Liebe kämpft, aber nicht zuletzt Opfer seiner Ehrlichkeit und naiven Gutgläubigkeit wird. Das Bühnenbild von Martin Zehetgruber stellt in den ersten sechs Szenen einen klaustrophob anmutenden Guckkasten dar, der sich zur niedrigen Drehbühne weitet und erst in der zwölften Szene, in der Wozzeck Marie mit einem Messer die Kehle durchschneidet, einer großen leeren Bühne Platz macht.
Das Ereignis des Abends ist aber weniger die doch sehr kloakenmorastige Inszenierung als eine umwerfende Ensembleleistung und die brillante klangliche Umsetzung durch die Staatskapelle Berlin unter der Stabführung von Christian Thielemann.
Die vokalen Kronen des Abends gebühren gleichermaßen dem Wozzeck von Simon Keenlyside als auch der Marie von Anja Kampe. Keenlyside ist als Wozzeck kein dem Schicksal a priori ausgeliefertes Opfer, sondern ein im Grunde gestandener Mann, der dieser Figur ein menschliches Antlitz gibt. Wozzeck behält in dieser Verkörperung aller erlittenen Erniedrigungen zum Trotz seine Würde. Keenlyside macht weniger den zunehmenden Wahn als die Entwicklung hin zum mörderischen Ende psychologisch glaubhaft nachvollziehbar, ein gebeugter Schmerzensmann, der bis zum letztmöglichen Zeitpunkt kämpft und Verantwortung für die Seinen trägt. Als kleines Wunder darf gelten, wie dieser nun 66-jährige Sänger über die Jahrzehnte hinweg seine stimmlichen Qualitäten ohne jegliche Einschränkung erhalten konnte.

Foto: Stephan Rabold
Anja Kampe liefert als hochdramatische Marie mit über die ganze Tessitura hinweg beeindruckender Stimme eine Sternstunde expressiven Gesangs und totaler Rollenidentifikation. So wird diese Marie zum Sinnbild eines grellen Aufschreis gegen Ungerechtigkeit und Enge. Weder Mut noch Glaube helfen ihr, aus den überhohen Gefängnismauern von Repression und grauem Leben auszubrechen. Keenlyside und Kampe gelingt es, der Symbolkraft ihrer Rollen weit über den „Anlassfall“ hinaus humanistische Geltung abzuringen.
Eine gigantische Leistung ist auch Wolfgang Ablinger-Sperrhacke in der bis in die Stratosphären tenoraler Möglichkeiten reichenden Wurzenpartie des von Zwänglichkeiten aller Art geplagten Hauptmanns zu attestieren. Mit welcher stimmlich chirurgischen Präzision an Artikulation und Rhythmik, an Ausdrucksplastizität und Sprachvirtuosität er die grausam-hypochondrische Figur Gestalt gewinnen lässt, ist ganz großes „Opernkino“. Dazu ist er wie auch der Doktor des Stephen Milling ein begnadeter Darsteller. Alle Seelenregungen dieser auf ihre Art entgleist-geschundenen, vielleicht auch daher sadistisch bis zum Anschlag sich verhaltenden Kreaturen werden so bis zur Neige und Grenzwertigkeit des Aushaltbaren ausgekostet.
Rollendebütant Andreas Schager setzt die Tradition der als Tambourmajor reüssierenden Heldentenöre von Max Lorenz über Hans Beirer bis James King mit eindrücklicher Stimmgewalt fort. Die Aufgeblasenheit und testosterongeladene toxische Männlichkeit der Figur wird noch durch das Muskelschaumstoff gepolsterte Kostüm (Silke Willrett, Marc Weeger) betont.
Als Margret ist die Mezzosopranistin Anna Kissjudit eine Luxusbesetzung ersten Rangs, der man auch eine Marie zutrauen würde. Von der Premierenbesetzung ist als einziger noch Florian Hoffmann als Andres mit von der Partie. In weiteren Rollen waren Friedrich Hamel als Erster Handwerksbursche, Dionysios Avgerinos als Zweiter Handwerksbursche, Stephan Rügamer als Narr, Soongoo Lee als Soldat und mit verdientem Sonderapplaus Jacob Tougas Gigling als Mariens Knabe zu hören.
Zu erwähnen ist auch, dass die kurzen Chorszenen vom Staatsopernchor und dem groß besetzten Kinderchor der Staatsoper in der gebotenen Genauigkeit und Intonationsreine bravourös absolviert wurden.
Christian Thielemann hat eine Serie von Wozzeck bereits 1989 in Turin musikalisch geleitet. Nun hat er für das gestrige Jubiläum samt drei Folgevorstellungen ausgiebig mit der Staatskapelle Berlin geprobt. Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht beeindruckend. Thielemann gelingt es, die bis heute zu bewundernde avantgardistische Modernität des expressiven Meisterwerks mittels gläserner Klarheit, Transparenz und höchster Präzision, aber ebenso die spätromantische Einbettung durch seidenweich aufspielende Streicher und Holzbläser auszustellen. Das kulminiert in Höhepunkten an Orchesterkultur bei dynamisch extrem ausgereizten Kontrasten. Besonders in den Orchesterzwischenspielen legt Thielemann Wert auf Ausdruck und Spannung bis zum Zerreißen und begreift so auch das Instrumentale als dramaturgisch genuinen Teil der Handlung. Das Faszinierende an Bergs Partitur ist ja dieses Nebeneinander von Härte, Knappheit, rhetorischer Brutalität, durchzogen von einer beinahe unerträglichen schwelgerischen Schönheit, der man nicht entkommen kann.
Fazit: Ein großer, bewegender Opernabend. Ein brillant begangenes Jubiläum. Musikalisch zählt diese Aufführung sicherlich zu den auch historisch profiliertesten und eindringlichsten.
Weitere Termine: 18. Dez. 2025, 21. Dez. 2025, 4. Jan. 2026
Dr. Ingobert Waltenberger

