BERLIN / Staatsoper unter den Linden ROMEO ET JULIETTE; PREMIERE; 10.11.2024
Die Trotzige und der Phlegmatische – Teenieliebe im Designerhaus
Foto: Monika Rittershaus
Shakespeares/Gounods Parabel über eine durch gesellschaftliche Realitäten tödlich endende Liebe als banalisierte amour fou, die Papa nicht passt. Gounods Romeo et Juliette, eine französische romantische Oper mit zärtlichem Harfengezirpe und dem koloraturgeschwängerten Hit „Je veux vivre“ war am Haus Unter den Linden über 100 Jahre nicht zu hören. Mariame Clément hat nun die Liebesgeschichte um zwei junge Menschen aus zwei verfeindeten Familien mit bösem Ende auf die Bühne gehievt. Da Gounod an seiner 1867 uraufgeführten Oper nachträglich noch einiges herumgedoktert und die zündendsten Nummern erst nachträglich hinzugefügt hat, spielt man die dritte Fassung aus dem Jahr 1888.
Das Drame lyrique in fünf Akten mit Texten von Jules Barbier und Michel Carré nach William Shakespeare lebt von der feinen Orchestertextur und exzeptionellen Simmen, die uns berühren, im sentimentalen Pathos der Musik baden und weinen lassen. Jegliche extra Psychologisierung der einfachen Geschichte ist da fehl am Platz und bringt – selbst wenn gekonnt in Szene gesetzt – kaum Mehrwert.
In der Inszenierung von Mariame Clement und den Bühnenbildern samt selten hässlichen Alltags-Kostümen von Julia Hansen wird der Konfliktsbrennpunkt von den Familienunverträglichkeiten auf einen konstruierten Generationenkonflikt verlagert. Julia pflegt ihren Protest gegen das fade Establishment des Herrn Capulet im protzig kühlen Designerhaus auf ihre Art: In strähnig blauen Haaren und ausgewaschenen Jeans, ein wenig Todessehnsucht von allem Anfang an darunter gemischt. Die Capulets aus der Sicht von Clément sind stinkereich, die Montagues prollig arm. Der Konkurrenz-Hass der (eigentlich auf demselben sozialen Niveau lebenden) Clans existiert nur in der materiellen Fallhöhe und wird als sozialer Konflikt umgemodelt. Die Handlung wird so inkongruent und dramaturgisch alles andere als glaubhaft erzählt.
Die größte Crux an der Inszenierung ist allerdings, dass Clément außer den Umbestimmungen der gesellschaftlichen Vorgaben mit den Personen auf der Bühne nichts anfangen kann und sich in einem statischen Rampentheater ergeht, das durch die teils extreme Einengung der Bühne in den minimalistischen Bildern von Julia Hansen noch verstärkt wird.
Amitai Pati (Roméo). Foto: Monika Rittershaus
Beim Geburtstagsfest für die genervte Julia im ersten Akt drängt sich der Chor so dicht an dicht, dass die alberne, bastfransenperückte Gesellschaft sich so aufführt, wie das die Generation Z als maximal peinlich empfindet. Julia als Zoomerin sieht einen Lichtblick erst, als Romeo & Friends auftauchen und sofort das erste Liebesduett ansteht. Von einem verstörten rebellischen Teenie alias Elsa Dreisig sopranlichternd gesungen und düster dargestellt, würde man sich eigentlich alles andere erwarten, zumal es sich beim Romeo des Amitai Pati um einen äußerst braven, ja phlegmatischen Jüngling handelt.
Dann nimmt die Geschichte, wie sie bekannt ist, in Umrissen ihren Lauf. Als optische Zutat für die erste und die noch kommenden drei Liebesduette dienen Videoprojektionen vor schwarzen Slidern (Sébastien Dupouey) mit allerlei Schmetterlingsgewimmel, die wohl die sprichwörtlichen Falter im Bauch Liebender als auch das Gefühl von Freiheit suggerieren sollen. Frère Laurent ist bei Clément kein Geistlicher, sondern ein böser Religionslehrer, der „seine Autorität auf völlig verantwortungslose Weise nutzt“ und Romeo und Juliette in einem Klassenzimmer unter Beisein vieler kleiner Schülerinnen und Schüler traut.
Die große Auseinandersetzung der Capulets mit den Montagues findet bei Mariame Clément in einer Turnhalle statt, wo Ema Nikolovska als Stephano (O-Ton Clément „der bei uns nicht als Hosenrolle, sondern als nichtbinäre Figur angelegt ist“ – Anm.: ich habe echt keine Ahnung, was mir das im Kontext des Stücks sagen soll) mit einem Spottlied die aggressive Stimmung anheizt. Wir wissen, was dann geschieht: Mercutio (Jaka Mihelac) wird von Juliettes Cousin Tybald (Johan Krogius) – hier per Pistolenschuss – getötet, worauf Romeo Tybald (der Softie materialisiert sich als Brutalo) mit einem Schläger ins Jenseits befördert. Um dem ewigen Blutvergießen fürderhin Einhalt zu gebieten, verbannt der Herzog von Verona (Manuel Winckhler) Romeo aus der Stadt.
Die berühmte Liebesnacht (vierter Akt) findet im Girliezimmer der Juliette mit Barbies, Popidolplakaten und Platten an den Wänden statt, wobei die beiden sich eher schüchtern-patschert als leidenschaftlich der Oberbekleidung entledigen und unter die Decke schlüpfen. Hochzeitsnacht? Na gut. Dann kommt wohl die bizarrste Szene des Abends. Ganze acht Minuten wurden vom eigentlich 18 Minuten langen Ballett „Die Braut und die Blumen“ (nachzuhören etwa auf der wunderbaren Aufnahme mit Alagna/Gheorghiu unter Michel Plasson) geöffnet. In einer szenischen Doppelung – Theater auf dem Theater als auch im Vordergrund – nimmt Juliette das Gift und dann umtanzen einige blauhaarige Juliette-Doubles das Brautbett.
Juliette nimmt den lähmenden, einen todesähnlichen Zustand bewirkenden Trank, um nicht Pâris (David Ostrek) heiraten zu müssen. Sie liegt in einer Leichenhalle und wird von zwei Bestatterinnen balsamiert. Das letzte Liebesduett von Sternenhimmel besiegelt einen sängerisch bemühten, wie szenisch langweiligen und unentschiedenen Abend.
Nicolas Testé (Frere Laurent), Elsa Dreisig (Juliette). Foto: Monika Rittershaus
Hausdebütant Stefano Montanari dirigierte die diesmal Pastellfarben bevorzugende Staatskapelle Berlin in manchen Details durchaus delikat, insgesamt aber spannungsarm und allzu zurückgenommen. Elsa Dreisig, die die Rolle schon 2023 in Paris gesungen hat, ist eine stimmlich bezaubernde Juliette, die höchsten Töne bringen sie jedoch hörbar an ihre Grenzen. Amitai Patis sehr lyrischer, in der Höhe fragiler Tenor ist einfach eine Nummer zu klein für das Haus und flüchtet sich allzu oft ins wenig tragende Falsett. So kommt es, dass von den Hauptrollen die einzige uneingeschränkt affirmativ zu beurteilende Leistung Nicolas Testé als Frère Laurent bietet. Marina Prudenskaja als Amme Gertrude und der raubrummige Arttu Kataja als Capulet komplettieren das Ensemble. Der Staatsopernchor (Einstudierung Dani Juris) entledigte sich seiner Aufgaben professionell, in den Frauenstimmen hätte eine Nuance weniger Vibrato stilistisch besser gepasst.
Durchwachsener Applaus und einige Buhs für das Leading Team und den Dirigenten. Den Sängerinnen und Sängern wurde mit (viel) Zustimmung gedankt.
Weitere Vorstellungen in dieser Serie am 13., 20., 22. und 24. November 2024
Dr. Ingobert Waltenberger