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BERLIN / Staatsoper Unter den Linden MÉDÉE von Marc-Antoine Charpentier. Premiere

20.11.2023 | Oper international

BERLIN / Staatsoper Unter den Linden MÉDÉE; Premiere; 19.11.2023

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Copyright: Ruth Walz

Marc-Antoine Charpentiers Tragédie lyrique dirigiert von Sir Simon Rattle in einer Inszenierung von Peter Sellars und Bühnenbildern von Frank Gehry

„Ist das, was ich tue, moralisch, ethisch und richtig? Immer wieder ist die Antwort klar: Nein, das ist es nicht. Und dann tut die Figur mit offenen Augen das Falsche. Überwältigend. Das ist menschlich, und das ist Oper.“ Peter Sellars

Médée, die einzige Tragédie lyrique des Marc-Antoine Charpentier auf ein Libretto des Thomas Corneille gilt heute als vielleicht bedeutendste musiktheatralische Schöpfungen im Frankreich des zu Ende gehenden 17. Jahrhunderts. Lully war 1687, nur wenige Jahre vor der Uraufführung von Médée am 4.12.1693 an der Académie royale de musique, gestorben. Charpentier, der mit über 550 Werken vor allem als genialer Schöpfer geistlicher Musik reüssierte, ist stilistisch in der Nachfolge Lullys verortet, aufgepeppt durch die melodische Leichtigkeit der italienischen Oper. Immerhin studierte Charpentier in Rom Komposition bei Giacomo Carissimi.

„Médée“ folgt der typischen Gliederung einer Tragédie lyrique mit Prolog und fünf Akte, in denen sich neben fünf Haupt- (Médée, Jason, Créon, Créuse, Oronte) und drei Nebenfiguren (Nérine, Cléone, Arcas) noch eine Unzahl an Allegorien, Hirten, Geister, Liebesgefangene etc. tummeln. Rezitativische und ariose Passagen, Chöre und Tänze/Divertissements bilden einen stet durchkomponierten Musikfluss.

Völlig anders als in Cherubinis „Medea“ schlittern die Protagonisten bei Charpentier erst nach und nach in ihr Verderben. Die Könige von Korinth und Argos, Créon und Oronte, schmieden einen Pakt gegen Thessalien. Oronte soll dafür Créons Tochter Créuse zur Frau bekommen. Médée und Jason stehen unter dem Schutz des Hofes von Korinth, vor allem, weil Créon Jason zur militärischen Unterstützung braucht. Médée soll, weil sie die männlichen Pläne stört, den Hof verlassen und ihre Kinder in der Obhut Créuses lassen. Als sich herausstellt, dass in Wahrheit die Hochzeit von Jason und Créusa beschlossene Sache ist, sind sowohl Médée als auch Oronte die „Angeschmierten“. Médéé schwört Rache, sprengt ihre Zelle und das Gefängnis. Mithilfe der Geister der Unterwelt vergiftet sie das Créuse geschenkte Sonnenkleid, nimmt Créon den Verstand, der irrsinnig geworden Oronte abschlachtet und sich dann selbst ins Schwert stürzt. Créuse verflucht Médée, worauf die korinthische Königstochter in ihrem Kleid verbrennt. Jason sieht, dass Médée ihre Kinder getötet hat. Gemeinsam mit den Dämonen rast Médée nach der fürchterlichsten der vorstellbaren Rachetaten von der Bühne.

Sir Simon Rattle hat im Vergleich zur zweiten, kompletten Gesamtaufnahme von William Christie aus dem Jahr 1994 aus der Pariser Salle Berthier im Prolog und den rein instrumentalen Passagen (das betrifft vor allem die Divertissements in allen fünf Akten) merklich gekürzt. Als Continuo kamen zwei Cembali, zwei Gamben und zwei Lauten (im Wechsel mit Gitarren) zum Einsatz. Da die Partitur Freiräume zur Instrumentierung lässt, hat sich Rattle für ein groß besetztes Orchester entschieden, bei dem neben den Streichern vor allem den Block- und Traversflöten sowie den Oboen „chorisch“ prominente Aufgaben zugewiesen wurden.

Das Freiburger Barockorchester, mit a1=392 Hz. und damit ca. einen Ganzton tiefer als der heutige Kammerton gestimmt, wurde von Rattle zu filigranem Streicherklang, zu Feinschattierungen in durchwegs unteren Tonstärkebereichen angehalten. Dieser „Ansatz“, der das typisch französische Element der rhythmischen Prägnanz und Zuspitzung nicht priorisiert, ergibt zwar delikate Wirkungen und betont den philosophischen Charakter und die subkutan psychologischen Querverweise der musikalischen Figurenzeichnung. Die höfisch repräsentative Pracht der Musik, die Drastik vieler Szenen blieben aber weitgehend auf der Strecke. Resultat: über weite Strecken gepflegte Langeweile und stilistisches Allerlei. Wie wirkmächtig markant barocke Oper klingen kann, hat Christophe Rousset zwei Tage zuvor bei Cherubinis „Medea“ exemplarisch vorgeführt.

Die zweite Enttäuschung: Der 94-jährige kanadisch-amerikanische Architektensuperstar Frank Gehry, den die Welt für seine spektakulär dekonstruktivistischen Entwürfe, wie das Guggenheim Museum in Bilbao, die Walt Disney Concert Hall oder die Fondation Louis Vuitton pour la Création kennt, zeichnet für das Bühnenbild verantwortlich. Das besteht ahistorisch höchst simpel aus drei Wolken aus Stahlwolle, die auf Seilen hängend sich permanent rauf und runter bewegen, aus zwei Artefakten mittelgroß stilisierter Bäume und Felsen aus transparenten Stahlmaschengeflechten. Die Gefangenschaft der „Immigrantin“ Médée und ihrer Kinder wird in den Akten 1 bis 3 symbolisch durch zwei dreiteilige nach hinten offene Baugitter angedeutet, die peu á peu nach rechts gerückt werden. Der Krieg offenbart sich gegenständlich in einem gepanzerten mobilen Mehrfachraketenwerfer. Das soll’s gewesen sein, verehrter Herr Gehry?

In diesem durch eine ebenso simple Lichtregie (James F. Ingalls) ein wenig variierten Einheitssetting siedelt Regisseur Peter Sellars seine ins Heute geholte Sicht des Mythos Médée an. Konzertiert auf die persönlichen Schicksale der Hauptfiguren, der vorherrschenden Egomanie und überwiegend politischen Ratio der Erzählung drehen sich Sellars Gedanken primär um den exorbitanten Preis, den Frauen und Kinder bei Krieg, Flucht oder Vertreibung zahlen müssen. „Das Bild der verrückten Zauberin, der Hexe, der bösen Mutter, der weiblichen Kindermörderin ist reißerisch ausgearbeitet worden, um das überwältigende Übermaß der Gewalt gegen Frauen und Kinder zu verschleiern, welches unsere Zeit und die meisten Epochen vor uns kennzeichnet.“ (Auszug aus Sellars Text „Vielleicht hat uns der Mythos von Medea etwas zu sagen.“)

Eine „Barbarin“ als verhasste Wahrheitskünderin, gesellschaftlich tolerierte Halbwahrheiten um einer abstrakten Stabilität willen, Lügen, Verschleierung, verdrehte Schuldzuweisungen, Abdriften in Wahnsinn, Kinderopfer. Das sind die Ingredienzien von Corneilles Stück, die heute ebenso greifen wie vor 325 Jahren.

Soweit die Theorie. Aber leider fällt Peter Sellars zu der originär höfisches und jetzt gewiss aktuelles Leben zynisch sezierenden Oper kaum etwas an adäquater Aktion ein. Da wird in Drillich und bunten Abendkleidern herumgestanden, an den Zäunchen mit Händen gerungen, flankiert von zwei mit Maschinengewehren bewaffneten, sich in Zeitlupe windenden Männern. Der Chor marschiert in durchsichtige (blutverschmierte?) Overalls gewandet auf und wieder ab. Das Brennen der Créusa wird dramaturgisch unbedarft mit zwei roten Scheinwerfern angedeutet, die Leichen der Kinder mit bunten Plastikbällen dekoriert. Für seine Einfallslosigkeiten musste der Hausdebütant am Schluss einiges an Buhs einstecken.

Die Besetzung agiert dafür durchwegs auf hohem und höchstem Niveau.

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Copyright: Ruth Walz

Magdalena Kožená stellt als Médée keine antikische Tragödin dar, sondern macht vor allem die seelischen Metamorphosen und Mäander einer emotionsgetriebenen Frau in unzähligen Nuancen hör- und erlebbar. Sie ist eine großartige Gesangskünstlerin, der dichte und unvergessliche Momente gelingen, lässt aber in der unteren Lage stimmliche Substanz vermissen.

Die beste Leistung des Abends gelingt Reinoud Van Mechelen als Jason. Dieser Haute Contre von Gnaden liefert mit seinem optimal fokussierten, wie es sich für dieses Stimmfach gehört, „edelweiß“ timbrierten Tenor ein packendes Rollenporträt des hinterlistigen Schufts Jason. Es ist immer wieder eine Freude, diesem virtuosen Sänger auf dem Zenit seiner Möglichkeiten bei den präzisen Verzierungen und selbstverständlich spielerisch platzierten hohen Tönen zu lauschen. Luca Tittoto als König Créon und Gyula Orendt als Oronte erfreuen das Ohr mit pastos samtenen Tönen, überzeugen in den ariosen Abschnitten und besonders im dramatischen Showdown im vierten Akt. Carolyn Sampson als Créuse, Jehanne Amzal als Cléone und Marketa Cukrová (Nérine, Bellone) boten mit ihren qualitätsvollen Stimmen ebenfalls vokal Memorables.

Der Staatsopernchor (Einstudierung Dani Juris) hat ganze Arbeit geleistet und ist in dieser Produktion über sich selbst hinausgewachsen. Bravo.

Folgetermine: 23., 25., 30.11., 2.12.

Link zum offiziellen Filmtrailer https://www.staatsoper-berlin.de/de/veranstaltungen/medee.12155/?mediaId=0#event-68663

Foto credits Ruth Walz

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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