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BERLIN / Staatsoper Unter den Linden – LA FANCIULLA DEL WEST. Grandios: Puccinis Edel-Liebes-Western mit Anja Kampe, Brandon Jovanovich und Tomasz Konieczny

23.06.2024 | Oper international

BERLIN / Staatsoper Unter den Linden – LA FANCIULLA DEL WEST; 22.6.2024

Grandios: Puccinis Edel-Liebes-Western mit Anja Kampe, Brandon Jovanovich und Tomasz Konieczny

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Schlussvorhang. Copyright: Dr. Ingobert Waltenberger

Am 13. Juni 2021 feierte diese im besten Sinne werkgetreue (nicht realistische) Produktion in der Regie von Lydia Steier und in den atmosphärisch dichten, an die Ästhetik des Kinos angelehnten Bühnenbilder/Kostüme von David Zinn Premiere. In den fünfziger Jahren angesiedelt und u.a. von David Lynch sowie der US-amerikanischen Krimi-Drama-Fernsehserie „Breaking Bad“ von Vince Gilligan inspiriert, funktioniert die von der Personenführung her brillante Inszenierung in den vielen kleinen Genreszenen wie im Großen dank einer engagierten Abendspielleitung (Kompliment an Caroline Staunton und Tabatha McFadyen) wie am ersten Tag.

Historischer Hintergrund: Der kalifornische Goldrausch Mitte des 19. Jahrhunderts: Abenteurer und Spieler, Säufer und Banditen, Gescheiterte allesamt auf der traumverlorenen Suche nach einem besseren Leben, das es so nicht geben wird. Bis 1855 sind es mehr als 300.000 solcher Glücksritter und Frauen, die in Kalifornien nach Gold schürfen bzw. vom Hype profitieren wollen. Heute geht das anders. Da ist niemand mehr mit Schaufel und Sieb unterwegs, man schürft nach Krypto-Token, hortet Coins diverser Krypos oder versucht, mittels Lotterien bzw. an der Börse an das große Geld heranzukommen. Da findet der „spekulative Goldrausch“ aus ähnlichen Beweggründen statt, aber dafür mit Aussicht auf wirklich hohe Gewinne im Vergleich zu den Metalljägern des 19. Jahrhunderts. Die Banditen sind heute diejenigen, die schamlos Insiderwissen nutzen oder zielgerichtet die Kurse zu ihrem Vorteil manipulieren.

In „La Fanciulla del West“ bringt es Minnie auf den Punkt, indem sie feststellt: „Sprechen wir beide Klartext!….. und bringen es zu Ende! Wer seid Ihr, Jack Rance? Ein Spielsüchtiger. Und Johnson? Ein Bandit. Ich? Eine Wirtin einer Spelunke und Spielhölle, lebe von Whiskey und vom Gold. Wir sind alle gleich! Wir sind alle Banditen und Betrüger!“

In Puccinis, instrumental großartiger, späten, 1910 an der New Yorker Met von Arturo Toscanini mit Emmy Destinn und Enrico Caruso erfolgreich aus der Taufe gehobenen Oper wird eine idealisierte Laborsituation konstruiert. Minnie, Heilige und Übermama mit dem Herz am rechten Fleck, die ihren männlichen Gästen ihrer Kaschemme „Polka“ zwischen Kartenspiel und Schnaps aus der Bibel vorliest, sie alle durch ein ausbalanciertes Verhältnis aus fürsorglicher Nächstenliebe und auf Distanz gehaltener erotischer Attraktion am Ball hält. Eine obsessive Erlöserin ist diese ländliche Schönheit, die den geläuterten Gangster als gefallenen Engel zuerst mittels gezinkter Karten und vor der ihn hängen wollenden Menge mit Überzeugung und rhetorischem Insistieren freibekommt.

Die romaneske Utopie des Stücks betrifft genauso die zwei männlichen Protagonisten: Der Tenorheld Dick Johnson alias Ramerrez, Anführer einer mexikanischen Räuberbande wider Willen, will aus Liebe zu Minnie ein neues Leben versuchen und verlässt am Ende des Stücks gemeinsam mit ihr Kalifornien, Hoffnung auf ein besseres Leben inklusive.

Dann hätten wir noch den Sheriff und Spieler Jack Rance, der seine angetraute Frau in New Orleans gelassen hat und bis über beiden Ohren in Minnie vernarrt ist. Dass sie ihn nicht will, ist verständlich. Schließlich ist Jack aber so anständig, dass er Wort hält und den Räuber (Mörder war er nie, versichert, Dick) ziehen lässt.

Die Aufführung an der Staatsoper Unter den Linden funktionierte außer der glaubhaften und stimmungsmäßig schillernden Produktion deshalb so gut, weil erstens Simone Young der bestens disponierten Staatskapelle Berlin (das größte Orchester aller Puccini-Opern) sowohl in den unzähligen instrumentalen Details, in der Deklamation als auch in den aufwuchtenden Tutti den bestmöglichen Klangzauber und Farbenrausch der Partitur entlockte. Da kitzelte samtiges Puccini-Melos die Sinne, sorgten kantige „synkopenreiche Ragtime- und Cakewalk Rhythmen“ für Lokalkolorit und italienisch gefärbte Wild-West Atmosphäre.

Zweitens war die Besetzung vom Beeindruckendsten und Besten, was die jetzige Opernszene im dramatischen Fach hergibt. Rein stimmlich gehörte die Krone an diesem Abend Tomasz Konieczny als Jack Rance. Dieser Wagner-geeichte Heldenbariton hatte genau das Kaliber an Stimmgröße und -schwärze, um die drängende Unberechenbarkeit seiner Avancen Minnie gegenüber als auch die brutale Härte seines „Jobs“ erlebbar zu machen. Ein gestandenes Mannsbild wandelte da auf der Bühne und war doch in all seiner autoritären Macht am Ende hilflos den Emotionen und eigenen Bedingtheiten ausgeliefert.

Ganz fabelhaft war auch Brandon Jovanovich in der anspruchsvollen Spintopartie des Dick Johnson. Er gab den fremden Feschack, das sensible Herzerl im Gaunerkostüm mit tenoralsaftigem Schmelz. Die einzige Arie des Stücks „Qu’ella mi creda“ im dritten Akt, in der er die zum Lynchmord bereite Menge darum bat, Minnie niemals die Umstände seines Todes zu verraten, sang Jovanovich mit wundersamer Einfühlung und in die Gesangslinie gut eingebundenen Spitzentönen.

Anja Kampe, die auch schon in der Premiere die Titelrolle verkörperte, ist eine singdarstellerisch großartige Minnie. In burschikoser Anmut brachte sie die vielen Facetten der nach der einzigen wahren Liebe dürstenden Figur, den furchtlosen Mut der selbstbestimmten Frau, die Unbedingtheit und Größe des Charakters in vielen Zwischentönen und, wo es die Partitur vorsieht, mit heldischer Attacke zum Ausdruck. Besonders in der üppigen Mittellage verfügte Kampe über einen glitzernd timbrierten Schatz an Nuancen. Dass es in den exponierten Höhen bisweilen an die Grenzen ging, geschenkt. Im Gegenteil: ich finde sogar, dass in solchen hochdramatischen Rollen mit extremer schauspielerischer wie vokaler Intensität Grenzzonen auch als solche wahrgenommen werden müssen, um die extremen Emotionen auch klanglich adäquat abbilden zu können.

Von den zahlreichen Interpretinnen und Interpreten der restlichen 15 Rollen möchte ich noch Stephan Rügamer als Kellner Nick stellvertretend für das ganze ausgezeichnete Ensemble hervorheben. Optisch in rothaariger Fannie=Zazie de Paris Aufmachung (Frankfurter Tatort), gab er mit seiner unvergleichlichen tenoralen Charakterkunst den wirtshäuslichen Seelenklempner und launenfrohen Schnapsnachschenker par excellence.

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Schlussvorhang. Copyright: Dr. Ingobert Waltenberger

Fazit: Ein Wurf von einer Aufführung dieser Puccini-Oper für musikalische Feinspitze. Ein festspielwürdiges Sängerfest! Die nächsten Vorstellungen der Serie finden am 26. sowie am 29.6. und am 3.7. statt. Für alle Vorstellungen sind noch Karten erhältlich. Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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