BERLIN / Staatsoper Unter den Linden DIE FRAU OHNE SCHATTEN; 6.11.2024
Musikalische Sternstunde an einem politisch weichenstellenden Tag
Foto-Credit: Hans Jörg Michel
Richard Strauss‘ Monumentaloper nach einem Text von Hugo von Hofmannsthal „Die Frau ohne Schatten“ in der Inszenierung von Claus Guth und den für das Repertoire tauglichen, einfachen aber dennoch poetischen Bühnenbildern von Christian Schmidt feierte am 9. April 2017 noch im Ausweichquartier im Schillertheater ihre Premiere. Das vordergründig märchenhafte, eigentlich tiefenpsychologisch so überwältigende Stück um Verwandlung und Zu-sich-Selbst-Finden, um Befreiung durch Verzicht und individuelle Reifung in gesellschaftlichen Zwangslagen wurde für eine Serie 2018 an die Staatsoper übernommen. Seither lag die Produktion im Dornröschenschlaf und wird nun für einige Vorstellungen in einer fantastischen, wahrscheinlich der bisher besten Berliner Besetzung unter der packenden musikalischen Leitung von Constantin Trinks gezeigt.
Die Sänger und Sängerinnen waren bis in die kleinste Rolle typenadäquat besetzt und bestens disponiert. Allen voran die Kaiserin von Camilla Nylund, die im Vergleich zu 2018 (ich habe darüber im Online Merker am 23.9.2018 berichtet) unglaublich an stimmlicher Wärme, Strahlkraft und dynamischer Differenzierung zugelegt hat. Offenbar hat die Befassung mit der Brünnhilde in Wagners „Ring“ als auch mit der Isolde Potentiale der Stimme freigelegt, die sich positiv auf die Fülle und den Farbenreichtum im piano und mezza voce als auch auf die Projektion dramatischer Spitzentöne ausgewirkt haben. Das kommt ihr jetzt vor allem im jugendlich-dramatischen Fach zugute. Darstellerisch reizte Nylund die emotionale Berg- und Talfahrt dieser Frau, die sich langsam aber sicher aus der Starre des mächtigen Vaters windet, jetzt noch nachdrücklicher aus. Vor allem die Szenen im zweiten Akt ‚Sieh Amme sieh‘ und die gesamte Auseinandersetzung mit der Amme in dritten Akt mit einem in Granit gemeißelten ‚Zur Schwelle des Todes‘ und einem zu Tränen rührenden ‚Aus unseren Taten steigt ein Gericht‘ gehörten zu den großen Höhepunkten des Abends und sicher auch zu erwähnen- wie ersehnenswerten Topleistungen im Strauss-Gesang generell.
Foto-Credit: Hans Jörg Michel
Michaela Schuster als Amme gab dieser Figur eines weiblichen Mephisto alle schwarz geflügelte Dämonie, unglaubliches Charisma und eine gewaltige Stimmfülle, die ich so aus 2018 nicht in Erinnerung hatte. Ihre grelle Diktion, die problemlose hochdramatische Höhe und eine singdarstellerische Expressivität vom suggestiven Flüstern bis zum existenziellen Aufschrei machte ihr Rollenporträt in dieser beinahe ungestrichenen Fassung zum Ereignis.
Auch die in Yekaterinburg gebürtige und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz unterrichtende Elena Pankratova war als Baraks Frau schon 2018 mit von der Partie. Diese exzeptionelle dramatische Sopranistin singt die Partie der Färberin seit 2010 und hat an Raffinesse, darstellerischer Intensität und psychologischer Feinjustierung noch zulegen können. Wahrlich imponierend, wie Pankratova die zwei Seiten dieser Frau mit der „Energie eines eingesperrten Vogels“ (Guth) stimmlich zu fassen vermag: Die Unzufriedenheit und den Frust der zu einer Heirat mit dem Färber gezwungenen Frau und die aus „Ausbruch und Distanzierung“ gewonnene Erkenntnis von Liebe und Zugehörigkeit. Außerdem hat Pankratova eines der schönsten Timbres, die ich je in dieser Partie gehört habe. Sie führt ihren Sopran ruhig und mit Bedacht, völlig ohne Schärfen, die Piani tragen ausnehmend gut.
Die Besetzung von Kaiser und Barak sind gegenüber 2018 neu. Andreas Schager ist als Kaiser, wie nicht anders zu erwarten, eine Naturgewalt. Sein ausgeruhter, kraftvoller, metallisch durchschlagender Heldentenor machen vor allem den mörderisch schweren Monolog im kaiserlichen Falknerhaus ‚Falke, Falke du wieder gefundener‘ im zweiten Akt zu einem überwältigenden Akt vokaler Entäußerung.
Als Färber bewies der ukrainische Bass-Bariton Oleksandr Pushniak, seit dieser Spielzeit festes Ensemblemitglied der Semperoper Dresden und in der Partie „Thielemann-geeicht“, wieder, wie menschlich berührend, balsamisch singend man den Charakter dieses vom Schicksal Geprügelten und dennoch zuversichtlich sich um die Seinen sorgenden, einfachen Mannes anlegen kann. Für mich persönlich ist Pushniak der berührendste Barak seit Walter Berry.
Die übrigen Partien waren mit Arttu Kataja (Geisterbote), Evelin Novak (Hüter der Schwelle des Tempels), dem überaus begabten Tenor Johan Krogius (Erscheinung eines Jünglings), Maria Kokareva (Stimme des Falken), Anna Kissjudit (Stimme von oben), Karl-Michael Ebner (Der Bucklige), Jaka Mihelač (Der Einäugige) und Manuel Winckhler (Der Einarmige) ansprechend besetzt.
Constantin Trinks leitete die anfangs noch verhaltene, im Laufe des Abends sich zu rauschhafter Klangfülle, lyrischer Verzückung und berstender Dramatik steigernde Staatskapelle Berlin umsichtig, auf Transparenz wie Überwältigung gleichermaßen bedacht.
Das Publikum im gar nicht ausverkauften Haus reagierte enthusiastisch und herzlich auf die hervorragenden Leistungen eines als Repertoiresternstunde zu bezeichnenden Abends. Auch mich hat es – ich gestehe – „erwischt“, d.h. ich konnte mich dermaßen in die allseits intensivst, vokal wie instrumental interpretierte Musik fallen lassen, dass sich so etwas wie Trance einstellte. Ein rares Phänomen in meiner nun schon 50-jährigen Operngeherei.
Und das sicher nicht, als ich in der zweiten Pause die Eilmeldung von der „Entlassung“ (man stelle sich vor, ein in der deutschen Politik nach 1945 noch nie da gewesener Vorgang) des Finanzministers durch den Bundeskanzler hörte. Und mein Tag hatte schon früh in der Landesvertretung NRW begonnen, als der German Marshall Fund gemeinsam mit „Table“ samt Gästen die Ergebnisse der US-Wahlen und deren Auswirkungen auf die deutsche/europäische Gegenwart zu deuten versuchte.
Ich denke, dass man gerade vor den aktuellen historischen Unwägbarkeiten für alles Positive und jedes Innehalten, das einem widerfährt, dankbar sein sollte. In diesem Sinn war das gestrige Musikerlebnis über das Normale hinaus einschneidend. Unvergesslich wird aber nicht nur der Opernbesuch, sondern sicher auch der weltpolitische Kontext bleiben, in dem sich der Tag ereignete.
Anmerkung: Eine einzige Aufführung in dieser Besetzung gibt es noch in dieser Spielzeit, und zwar am Samstag, 9. November 2024, 18.00 Uhr.
Aber keine Bange, Richard Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ ist in der Saison 22024/25 in Berlin in zwei Produktionen an zwei Häusern zu erleben (was ziemlich einzigartig sein dürfte), weil die Deutsche Oper Berlin am 26.1.2025 eine Premiere angesetzt hat. in der Regie von Tobias Kratzer und dirigiert von Donald Runnicles werden in den fünf Hauptpartien David Butt Philip (Der Kaiser), Jane Archibald (Die Kaiserin), Marina Prudenskaya (Die Amme), Jordan Shanahan (Barak, der Färber) und Catherine Foster (Sein Weib) zu erleben sein.
Dr. Ingobert Waltenberger