BERLIN /Staatsoper Unter den Linden: DIE AUSFLÜGE DES HERRN BROUCEK, Premiere; 16.4.2025
Tschechische Opernburleske im Dreivierteltakt in die Weltereignisse von 1968/69 katapultiert
Foto: Arno Declair
Leoš Janáček Bilogie „Der Ausflug des Herrn Brouček auf den Mond“ und „Der Ausflug des Herrn Brouček ins 15. Jahrhundert“ hat eine lange und mühsame Entstehungsgeschichte. In einer Zeit des politischen Umbruchs um den Ersten Weltkrieg und die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik bestehend aus Böhmen, Mähren und der Slowakei im Oktober 1918 entstanden, steht die Oper auch musikalisch zwischen der veristischen Wucht einer „Jenufa“ und Janaceks so eindringlichem Spätwerk.
Sieben Librettisten verschließ Janáček alleine für seine neun Jahre dauernde Mondlandung mit dem immer wieder Neu- und Umkomponieren der so zusammen gefitzelten Textteile. Der zweite Teil um die heroischen Hussiten entstand kompakter in wenigen Monaten, was dem musikalischen Fluss und der Stringenz der Partitur entsprechend zugutekommt. Was dem der Sprechmotivtheorie üblicherweise anhängenden Schaffensprozess anlangt, so gab es im Falle des Brouček etliche Ausnahmen, als Janacek für bereits fertige Musik um entsprechende Texte bat.
Janáček wollte in seinem nationalistischen Denken mit dieser gar nicht so humoristischen, dafür aber bitterbösen Satire auf einen ungustiösen, dauerbesoffenen Besitzer eines dreistöckigen Zinshauses, ein Grantler vor dem Herrn und Prototypen des politischen Opportunismus, ein Negativbild eines Spießbürgers zeichnen. Rund um diesen feigen, materialistischen, kunstfeindlichen Phäaken bekommen aber auch andere ihr Fett ab, die Kritiker und die esoterisch blütenschnüffelnden Künstler an vorderster Front.
Da es sich um eine Koproduktion der Staatsoper Unter den Linden mit dem Nationaltheater Brünn und dem Teatro Real Madrid handelt, sah sich Regisseur Robert Carsen vor die Aufgabe gestellt, auch einem tschechisch historisch nicht im Detail eingeweihten Publikum die beiden nur durch die Figur des Matěj Brouček und das Wirtshaus Vikárka verbundenen Stücke näherzubringen. Zur Persiflage gesellen sich bei Carsen reale, historisch markante Ereignisse, die ihr Licht und ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen.
Für den Ausflug auf den Mond ist das naheliegend die Mondlandung der Apollo 11 Mission vom 21. Juli 1969, die Hippie-Bewegung mit Kulmination im Woodstock Festivals „3 Days of Peace & Music“, mit dem Cocktail aus freier Liebe und bewusstseinserweiternden Substanzen (15. bis 18. August 1969), in der Inszenierung umbenannt in „Moonstock“ und für den politischen Teil die Invasion der Truppen der Warschauer Paktes mit 500.000 Mann und zigtausend Panzern in der Nacht zum 21. August 1968 in die Tschechoslowakei als auch den zweifachen Sieg der ČSSR bei der Eishockey-Weltmeisterschaft in Schweden am 21. und 28. März 1969, die in offene Proteste gegen die sowjetischen Besatzer mündeten.
Szenisch werden all diese Ereignisse mittels originaler TV-Berichte aus der Zeit in die Dramaturgie des Stücks integriert (Video Dominik Žižka). Das Bühnenbild von Radu Boruzescu ist für mich einer der Stars des Abends. Wie er den Ausschankraum (des heute noch existierenden Vikárka Restaurace v srdci Pražského hradu/Restaurant im Herzen der Prager Burg) mit zwei riesigen Braukesseln, wovon einer zur Raumrakete mutiert, bis in kleine Details liebevoll baut und atmosphärisch verdichtet, hat große bühnenbildnerische Klasse.
Musikalisch verläuft die Aufführung insgesamt gediegen, im ersten Teil aber instrumental wie vokal durchwachsen. Sir Simon Rattle, der das Stück zum ersten Mal dirigiert und die Staatskapelle Berlin, die es das erste Mal spielt, brauchen vor der Pause Zeit, um die so komplexe Mischung aus begleiteter Sprechtonrezitation, impressionistischer Orchesterfarbenmalerei, folkloristischer Beschwingtheit und messerscharfer rhythmischer Akzente in aller Präzision unter einen Hut zu bringen.
Von den Solisten imponiert der ganz auf schmierig und grauslich getrimmte Peter Hoare als Held des Hopfens Brouček. Ganz großartig mimt er die bizarre Figur des im Vollrausch sich weit weg von den banalen Alltagssorgen träumenden Filous und weiß auch stimmlich voll zu überzeugen.
Foto: Arno Declair
Freilich trägt die Palme des Abends der metallisch grundierte, top- höhensichere dramatische Tenor Aleš Briscein mit seiner akkuraten Charakterisierung der drei Figuren Mazal, Blankytný und Petřík. Wie schon in der Studioaufnahme des „Broucek“ aus dem Jahr 2021(Dirigent Jaroslav Kyzlink) für Supraphon überwältigt Brisceins Genauigkeit im Vortrag und die ideale Amalgamierung aus sanglichen und textgestalterischen Komponenten. Auch der ungarische Bariton Gyula Orendt zaubert als Sakristan, Lunobor, Domšík von der Glocke und Svatopluk Čech Glanzleistungen in Sachen burlesker Gestaltungsfantasie und vokaler Eindrücklichkeit auf die Bühne. Die englische Sopranistin Lucy Crowe, die in der Verkörperung der Trias Málinka, Etherea, Kunka die weibliche Hauptfigur darstellt, enttäuscht mit ihrer in der Höhe an Fokus verlierenden, zu lyrisch weichen Stimme und kaum deutlichen Konsonanten.
In weiteren Partien beweisen Carles Pachon als Würfl, Čaroskvoucí und Schöffe, Clara Nadeshdin als Hilfskellner, Wunderkind, Student, Natalia Skrycka als Kedruta, Arttu Kataja als Dichter, Oblačný und Vacek, Stephan Rügamer als Maler, Stimme des Professors, Duhoslav und Vojta sowie Linard Vrielink als Komponist, Harfoboj, und Miroslav ihr vokales Engagement und darstellerisches Temperament.Ein Sonderlob gebührt dem das Idiom gut treffenden Chor der Staatsoper Unter den Linden (Einstudierung Gerhard Polifka).
Szenisch fand ich den ersten Teil mit der überkandidelten, vegetarisch alle Fleischesgenüsse verachtenden künstlerischen Gesellschaft am Mond überzeugender und passender als die politische Vereinnahmung des Religionskrieges im 15. Jahrhundert, genauer der Schlacht am Veitsberg am 14. Juli 1420, als die katholischen Kreuzzügler des böhmischen Königs Sigismund die erste schwere Niederlage gegen die Hussiten unter der Führung von Jan Žižka erlitten, für eine wie mir scheint problematische Aktualisierung. Hier soll mit dem Zeigen von Gewalt und dem Widerstand des Volkes eindeutig auf die gegenwärtige Lage im Ukrainekrieg und vermutete Gefahren für Europa hingewiesen werden. Es ist doch wohl kaum anders zu deuten, wenn am Ende des Stücks ein Panzer auf die Bühne rollt und sein Kanonenrohr ins Publikum richtet. Im Zuge der inszenatorischen Erinnerung an die Ereignisse in Prag 1968 wird mitten im zweiten Teil für Jan Palach, jenem 20-jährigen Studenten, der aus Protest gegen die sowjetische Besatzung sich mit Benzin übergoss und anzündete, eine Schweigeminute eingelegt.
Fazit: Eine interessante, diskussionswürdige Aufführung, musikalisch mit Luft nach oben. Dem Applaus nach zu schließen, hat es dem Publikum bedingungslos gefallen.
Offizieller Trailer, Link https://www.youtube.com/watch?v=IzPTSB8qnvM
Dr. Ingobert Waltenberger