BERLIN / Staatsoper Unter den Linden DER ROSENKAVALIER; 22.12. 2023
„Wie himmlische, nicht irdische, wie Rosen vom hochheiligen Paradies.“ Sophie
Foto: Ruth Walz
Es gibt sie noch immer, jene glückhaften Repertoirevorstellungen, die atmosphärisch dichter und musikalisch reifer und unwiderstehlicher sind als viele Premieren. Geschehen am 22.12. in der Staatsoper Unter den Linden, wo vier Künstlerinnen und einem Künstler so etwas wie die Quintessenz des „Rosenkavaliers“ des Duos Hofmannsthal/R. Strauss geglückt ist. André Heller (Regie), Xenia Hausner (Bühnenbild) und Arthur Arbesser (Kostüme) haben einen großer Wurf an darstellerischer und optischer In-Szenesetzung hingelegt, hochästhetisch in der Zeit der Entstehung (Jugendstil und Belle Époche) ) angesiedelt.
Gescheiterweise handelt es sich noch dazu um ein gut geöltes, allzeit taugliches Repertoirejuwel, das in dieser Serie mit Julia Kleiter, Marina Prudenskaya, Golda Schultz und Günther Groissböck glanzvoll besetzt ist, und was die Damentrias betrifft, bei mir einen stärkeren Eindruck hinterlassen hat als die Premierenbesetzung. Am 9. Februar 2020 feierte Richard Strauss „Der Rosenkavalier in der aktuellen Inszenierung seine Premiere an der Staatsoper Unter den Linden, anlässlich eines Schwerpunktpunkts 2019/20, weil Richard Strauss in engster Verbundenheit mit Berlin 20 Jahre als Hofkapellmeister und GMD an der Berliner Hofoper tätig war. Es sollte die letzte Neuinszenierung vor der „Corona-Pause“ gewesen sein. Damals dirigierte Zubin Mehta.
Diesmal hat als Debütantin an der Staatsoper Unter den Linden Joana Mallwitz, seit der Saison 2023/24 künstlerische Leiterin und Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin, auch in Sachen Oper ein überaus goldenes Händchen bewiesen. Den „Rosenkavalier“ hat sie schon in ihrer Zeit als GMD am Staatstheater Nürnberg musikalisch betreut. Mit der Staatskapelle Berlin ist ihr jetzt ein ganz großer Wurf gelungen. Ich habe das Werk alleine an der Wiener Staatsoper ab Mitte der Siebziger Jahre über 60-mal gehört. Neben einer instrumentalen Brillanz (Streicher, Holz, Blech) geht es gerade beim „Rosenkavalier“ um Atmosphäre, Atmosphäre und nochmals Atmosphäre. Mallwitz findet den passgenau fluiden Tonfall, im heiter Überkandidelten ebenso wie sie die erregte Stimmung im Vorspiel, den großen Tableaus im Palais des Faninal oder im Beisl im dritten Akt feuerwerksartig explodieren lässt, wo alles durcheinanderwirbelt, bevor sich die Wogen in schönster Harmonie, untersetzt von einer noblen Träne, glätten.
Mallwitz gelingt es, die verhangene Melancholie des Aktschlusses I in sanft durchsichtige Pastelltöne zu tauchen bzw. die Streicher zur feierlich zarten Rosenüberreichung zu Beginn des Aktes II in Altsilberglanz schwelgen zu lassen. Dabei atmet sie mit den beiden Sängerinnen, sodass alles zu einer höheren Einheit verschmilzt. Die kleinen Temprorückungen – ganz besonders beim Ochs-Walzer „Ohne mich“ – lässt sie ganz im wienerischen Herzschlag pulsieren und hat so nicht nur dem „Maestro“ Bernstein jede Menge an für die Donaumetropole so typischer idiomatischer Expressivität und Schwungkraft voraus. (Anm.: Der Walzer fußt auf dem „Dynamiden“-Walzer von Josef Strauß, dem Bruder des „Walzerkönigs“, dessen Untertitel „Geheime Anziehungskräfte“ ebenso das Credo des Ochs sein könnte). Das heißt nicht, dass alles perfekt abläuft. Im Vorspiel zum ersten Akt könnten Dirigentin und Orchester bei den Übergängen noch besser zusammenfinden.
Was aber wesentlich wichtiger ist: Mallwitz nimmt sich für die introvertierteren Szenen genügend Zeit, das Orchester kann seinen ganzen wunderbaren Klangzauber in die Waagschale werfen. Um es mit Sophie zu sagen: „Zieht einen nach, als lägen Stricke um das Herz. Wo war ich schon einmal und war so selig?“
Wo wir bei der formidablen Besetzung gelandet wären. Es kommt ja nach über 50 Jahren Opernerfahrung wahrlich nicht allzu oft vor, dass eine Interpretin in einer dem Rezensenten sehr vertrauten Oper mit einer Leistung aufwartet, die die kühnsten Erwartungen übertrifft. Julia Kleiter hat das am Freitag geschafft, sie ist eine Marschallin von Gnaden, aktuell kenne ich keine bessere. Wie sie in selbstverständlicher Nonchalance privatissime oder als hochadelige Gastgeberin bei aller Aufdringlichkeit mancher Aufwartenden in ihrem Schlafzimmer Charme und Witz versprüht, gezielt Order gibt, gelassene Geduld mit ihrem „Vetter“ mimt, und in nachdenklicher Stille über die Vergänglichkeit von Liebe und erotischer Attraktivität räsoniert, hat ganz große Klasse. Rein stimmlich beherrscht die das so schwierige Parlando trefflich. In elegantester Leichtigkeit umflort von Schwermut philosophiert sie über das absehbare Ende der außerehelichen Gelegenheitsbeziehung zu dem jüngeren, 17-jährigen Octavian: „Taverl umarm‘ Er nicht zu viel. Wer allzuviel umarmt, der hält nichts fest“. Die langen Legatobögen des Monologs „Da geht er hin“ und das Besingen der „Schwäche alles Zeitlichen“ erheben sich in ätherischer Tonmalerei, der Sopran flirrt in verschwenderischem Obertonreichtum. Intonation lupenrein, jedes Wort ist verständlich, jede Bewegung sitzt und zeugt von Haltung und Stand. Habe schon lange nichts vergleichbar Großartiges in der Oper erlebt.
Ihr Octavian ist mit Marina Prudenskaya stimmsaftig besetzt. Es ist immer wieder eine Freude, diese technisch so versierte und höhensichere Mezzosopranistin aus dem Ensemble in verschiedenen Rollen stets auf hohem darstellerischen und sanglichen Niveau erleben zu dürfen. In der Hosenrolle dieses Grafen Octavian Rofrano überzeugt sie als stürmisch verliebter hormongesteuerter Jüngling, gibt eine durchtrieben patscherte Kammerzofe und stellt sich im Hause des Faninal (Roman Trekel hatte nicht seinen besten Tag) so verwegen und ungeschickt zugleich an, wie es das Libretto verlangt. Allerdings wäre es etwa im Hinblick auf die Balance mit Sophie im Duett wünschenswert, wenn Prudenskaya in den lyrischen Passagen Druck aus der Stimme nähme. Da machte bisweilen ein gezieltes Piano mehr Effekt als ein gepflegtes Dauerforte.
Ein weiterer Triumph der Besetzung ist Golda Schultz als Sophie. Sie darf als Idealbesetzung gelten und kann es auf einem Niveau wie Julia Kleiter mit den charismatischsten und vokal strahlendsten ihrer Vorgängerinnen aufnehmen. Ihre Sophie ist ein romantisches und gleichermaßen resolutes Mädel, das sich weder von Konventionen noch von Drohungen abschrecken lässt. Sehenden Auges in ein erwartbar unglückliches Leben und ergeben wie ein Lamm zur Schlachtbank latschen? Nein, nicht mit ihr. Ihr erstaunlich dunkler lyrischer Sopran mit lichthimmlischen Höhen reüssiert sowohl in der kämpferischen Attitüde ihrem gesellschaftlich ehrgeizigen Vater und ihrem beinahe „Verlobten“ Ochs gegenüber als auch zart schwärmerisch in ihrer sehr bewussten Entscheidung für Octavian.
Günther Groissböck hat in seiner Paraderolle als Ochs von Lerchenau seit der Premiere nochmals an Intensität, an darstellerischer und sanglicher Präsenz zugelegt. In seiner wahrlich unvergleichlichen Annäherung an die Partie kommen ganz neue Facetten dieser rüden wie selbstmitleidigen Figur zutage. Ein Don Juan der Vorstadt ist dieser Ochs, ein blasierter, mit allen Wassern gewaschener Landadeliger von geringer höfischer Statur und Manieren. Groissböck verkörpert in herrlichsten „österreichischen“ Vokalfarben den attraktiven, wenngleich brutalen Macho, der beim weiblichen Geschlecht nichts anbrennen lässt. Man glaubt diesem „Streichmacher“ und findigen Fährtensucher, scharf auf ganz bestimmtes Wild, dass er die „actes de présences“ hochpotent zu vollziehen vermag. Groissböck schärft aber nicht nur die Glaubhaftigkeit dieses gar köstlich wienerischen Urviechs, das neben der Behebung seiner finanziellen Nöte vor allem darauf schaut, „wo dem Knaben Cupido ein Geschenkerl abzulisten wär“. Herrlich humorvoll gestaltet Groissböck die Szene, wo dieser Ochs nach dem kleinen Degenstich in den Oberarm das Weichei heraushängen lässt, ganz Wehleidiger, der glaubt, an dem Kratzer verbluten zu müssen, ja sogar ganz und gar unheroisch in eine kleine Ohnmacht sinkt. Freilich ist der Ochs nicht nur ein widerlicher Kerl, sondern am Ende auch ein guter Verlierer. Musikalisch bewältigt Groissböck mit seinem mächtigen Bass den extremen Tonumfang, aber auch den spezifischen Tonfall der Rolle bravourös, vielleicht agiert er noch nuancenreicher und vielschichtiger als je zuvor. Ein Kammer- und Operngustostück der Sonderklasse!
Von den kleineren Rollen möchte ich die Annina der Katharina Kammerloher sowie den wohlklingenden Tenor und bühnenpräsenten Johan Krogius (Mitglied des Internationalen Opernstudios des Hauses) als Haushofmeister bei Faninal hervorheben.
Am 27.12.2023 und 2.1.2024 besteht noch die Gelegenheit, die Oper in der vorliegenden Besetzung zu erleben. Lassen Sie sich das nach Möglichkeit nicht entgehen!
Credits: Ruth Walz
Dr. Ingobert Waltenberger