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BERLIN / Staatsoper Unter den Linden – CHOWANSCHTSCHINA, Premiere. Fassung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky

03.06.2024 | Oper international

BERLIN / Staatsoper Unter den Linden – CHOWANSCHTSCHINA, Premiere, 2.6.2024

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Foto: Monika Rittershaus

Fassung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky

In den Jahren zwischen 1682 und 1689 wird Moskau zum Schauplatz chaotischer politischer Zustände, in deren Ausgang der energische Zarewitsch Peter die Macht übernimmt. Fürsten und Militärs tragen brutale Kämpfe um den Thron aus: fanatische Sektierer, Altgläubige, die Strelitzen – die Leibwache der Zaren –, anarchistische Einzelkämpfer und überzeugte Anhänger Peters. Der eigentliche Protagonist der Oper ist das Volk, das sich im Chaos nach einer starken Führerpersönlichkeit sehnt. Die bekommt sie auch, was mit einem hohen Preis an Unfreiheit und Repressalien einhergeht.

Unvollendet und doch oder gerade daher ist diese Oper um ein Interregnum vor der Krönung Peters zum Zaren und um einen zerstrittenen russischen Clan mit Machtansprüchen eine der gewaltigsten, was die Begrifflichkeit von Geschichte und deren Platz im Heute, oder anders formuliert sogenannte „historische Konstanten“ angeht. Bruchstückhaft gehen Geschicke und Komplotte vorüber, es wird – wie allerorts heute und morgen auch – um politische Macht, Kontrolle, um Einfluss gerungen. Zu echter Liebe ist nur Marfa fähig, ‚ihr‘ Fürst Andrej Chowanski hat längst ein Auge auf Emma geworfen, die seine sexuellen Avancen brüsk zurückweist. Aber auch eine Spaltung der russisch-orthodoxen Kirche nach einer Reform des Patriarchen Nikon bietet den sog. Altgläubigen reichlich Platz in der Oper, um in mächtig mystischen Chören Glauben und Untergang zu beschwören. Am Ende erleiden die fanatisierten Sektierer freiwillig die sog. „Feuertaufe“, das Publikum wird Zeuge eines Massensuizids durch Verbrennen.

Die Volksoper „Chowanschtschina“ sollte an der Staatsoper Unter den Linden schon 2020 über die Bühne gehen, fiel aber wie so vieles der Pandemie zum Opfer. Seit 2018 gingen die Planungen, gestern war es so weit mit einer komplex die durchaus werkgetreuen Tableaus theatralisch und optisch mit den Mitteln von Licht, Video undText hinterfragenden Aufführung.

Das Produktionsteam Claus Guth (Inszenierung), Christian Schmidt (Bühnenbild), Ursula Kudrna (Kostüme), Olaf Freese (Lichtregie), Sommer Ulrickson (Choreografie) und Roland Horvath (Video) hat sich immer wieder neu mit Fragen zum Stück beschäftigt und final das Fragmentarische, das „Unfertige“, die Stilbrüche selbst zum Thema erhoben. Das Markenzeichen des Regisseurs, nämlich die präzise Personenregie, ist auch in dieser Inszenierung präsent, Claus Guth will die einzelnen Personen in einen größeren Kontext sehen: „Ich versuche eher, die Szenen genrehaft zu belassen, in einer gewissen Aufführungs-Authentizität. Es ist dann die Art meiner Betrachtung, Gestaltung und der Anreicherung des theatralischen Raums um diese Szenen herum, die die Perspektive ausmachen.“

Unübersichtlichkeit auf die Spitze getrieben? Die Regie führt zusätzlich zur monströs versatzstückhaften, geschichtliche Vorgänge als Collage begreifenden Handlung eine „Forscher- oder Archivargruppe“ in die Handlung ein, was zwei Zeitebenen bedingt. Die Gegenwart, die die Vergangenheit aus der jeweils herrschenden Perspektive nach Erkenntnisgewinn und Gesetzmäßigkeiten hinterfragt und die Rekonstruktion eines Abschnitts russischer Historie (u.a. „Strelitzenaufstände“) Ende des 17. Jahrhunderts.

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Foto: Monika Rittershaus

Das ist zwar gut gemeint, bringt aber dramaturgisch wenig, als die in klinische Kittel gehüllten Teamleute eher wie Requisiteure oder Bühnentechniker rüberkommen und meist statisch beobachtend auf der Bühne stehen. Der inszenatorische Trick lässt die einzelnen Szenen wie Bilderbuch-Historienlegenden erscheinen. Einige Videos und eine Live-Kamera, die fallweise Gesichter der Protagonisten oder des Chors in Großaufnahme auf eine Leinwand projizieren lässt, ergänzt das regietheaterliche Inventar einer insgesamt auf vordergründige Aktualisierungen dankenswerterweise verzichtenden Inszenierung. Kleine Gags, wie in den erste drei Akten den künftigen Zaren Peter als 10 bis 17-jährigen Heranwachsenden zu zeigen und seinen Körpergröße zu messen, bringen ein klein wenig Humor in die todernste Übung um Machtstreben, Mord und Vergeltung.

Die Unübersichtlichkeit der Moderne versus eherne Tradition, das blinde Vertrauen in höhere (politische wie religiöse) Mächte und der „(Er)Lösungsglaube“ in vor Feindbildern starrenden Ideologien bzw. esoterischem Aberglauben statt in eine auf die eigene Ratio vertrauende Realitätssicht, das ist der zeitlose Kontext von „Chowanschtschina.“

Rasche räumliche Wechsel der Szenerien werden durch hydraulisch vertikal versenkbare Ebenen ermöglicht. Bühnenbildner Christian Schmidt arbeitet mit der stilisierten Ästhetik der Entstehungs- bis zur Jetztzeit (Kremlovalsaal mit der Statue Peter des Großen). In vorwiegend dunklen Farben entsteht eine Atmosphäre des ständig Bedrohlichen, von Unterdrückung und Einschüchterung, „Feindessäuberung“ und „Gegensäuberung“. Kunstgeschichtlich inspirierte Bilder, die frostig das Gestern mit dem Heute in Einklang bringen. Die gar nicht tröstliche Botschaft: Wie gestern, so heute und morgen.

Eine Chronistin an einem Stehtisch mit PC am vorderen Bühnenrand klopft die Handlung Erläuterndes in die Tastatur. Das ergibt bisweilen einen schönen Mischmasch an vorbeihastenden Wortkaskaden, die auf den Zuseher einstürmen. Da werden im ersten Akt gleichzeitig drei verschiedene Texte bemüht: diejenigen der „Forscherin“, des Schreibers In cyrillischer Schrift) sowie in den Übertiteln die Übersetzung des Gesungenen aus dem Russischen.

Die Musik von „Chowanschtschina“ ist in ihrer Wirkung nichts weniger als hypnotisch. Seit der Wiener Premiere unter Claudio Abbado, die ich jetzt noch im Ohr habe, gehört dieses Werk zu meinen erklärten Lieblingsstücken. Auch an der Staatsoper Unter den Linden ist es um die musikalische Seite bestens bestellt. Dirigentin Simone Young hält die rhythmischen Zügel straff in der Hand, vermag aber auch das lyrisch-elegischen Flehen in aller meditativen Ruhe auszukosten. Die Chemie mit der Staatskapelle Berlin stimmt offenbar, denn was das Orchester hier an Klangzauber entfaltet, grenzt an ein Wunder. Seien es die machtverliebt schmetternden Trompeten, die Jagdhörner oder das wilde Glockengeläute (die Staatskirche Iwan weliki symbolisierend), die mattseidigen Streicher und das geheimnisvoll dräuende Holz, die Musik zieht den Zuhörer unweigerlich in einen Sog an überwältigenden, bisweilen sich widerstreitenden Emotionen. Die archaische Kraft der Volksmelodien in Liedern und Tänzen, die chromatischen Schärfen, der strikt ans Wort gebundene Gesangsmelos gehen in unendlich kleinteiligen Begegnungen und Reflexionen mit ständigen Perspektivenwechsel je nach den gerade agierenden Figuren einher. Blutige Panoramen in zeitlos gültigen politischen Konstellationen, an Willkür und wiederum Hinmetzelung hybrider Anmaßung.

Die Besetzung bietet überwiegend Erstklassiges. An erster Stelle sind der ukrainische Bass Taras Shtonda als Dossifei und die Weltklassesängerin Marina Prudenskaya als Marfa zu nennen. Mit seiner profund sonoren, raumfüllenden Stimme und großem Bühnencharisma gibt Shtonda den unheimlichen Sektierer, der seine kleine, ihm hörige Gemeinde in den Flammentod führt. Prudenskaya brilliert als Altgläubige Marfa, vom Leben in ihrer unglücklichen Liebe zu Andrej schwer gerüttelt und in einer selbstzerstörerischen Flucht endend. Mit satt dunkler tiefer Lage und gleißenden Höhen führt sie ihren Edelmezzo ruhig und bruchlos durch alle stimmtechnischen und seelischen Lagen einer in sich zerrissenen Frau. Suggestive vokale Wonnen und eine bannende Ausdruckskraft eint Prudenskaya zu einem Gesamtkunstwerk, von denen Melomanen träumen. Stupend! Die Wahrsageszene beim Fürsten Golizyn (charaktertenorlich markant Stephan Rügamer) im zweiten Akt zählt zu den großen Höhepunkten des Abends.

Aber auch Mika Kares als machtgeiler Fürst Iwan Chowanski, George Gagnidze als Bojar Schaklowity, Najmiddin Mavlyanov als Andrej Chowanski, Andrej Popov als Schreiber und Evelin Nowak als Emma boten dramatisch eindringliche wie vokal herausragende Leistungen.

Eine Sonderstellung in Chowanschtschina nimmt der Chor ein, der selbst überragender Handlungsträger ist. Der Staatsopernchor (Einstudierung Dani Juris) übertraf sich an diesem Abend (einige kleine rhythmische Ungenauigkeiten zu Beginn ausgenommen) selbst. Ob vom Orchester gestützt oder a cappella, in altrussischer Polyphonie oder homophon, der Chor vom Volk präsentierte stimmig seine Launen, seinen ewigen Schmerz, aber auch opportunistisches Mitläufertum.

Fazit. Ein musikalisch großer Opernabend in einer nach und nach immer überzeugenderen szenischen Übersetzung ohne Aktualisierung mit dem Vorschlaghammer, mit einigen Regietheaterzutaten (Forschergruppe, Live-Kamera), die verzichtbar gewesen wären. Einhellige Zustimmung des Publikums.

Fotocredits: Monika Rittershaus

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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