BERLIN / Staatsoper Unter den Linden TURANDOT; 14.9.2024
Maßstab setzendes Rollendebüt von Elena Stikhina als Liù
Foto: Dr. Ingobert Waltenberger
Das Puccini-Jahr läuft noch immer und allerorts werden Tosca, Turandot & Co gespielt. In der Staatsoper Unter den Linden allerdings gewürzt mit interessanten Rollendebüts wie demjenigen von Lise Davidsen als Tosca oder gestern der umwerfenden russischen Sopranistin Elena Stikhina als Liù. Die Publikums- sowie CulturArte-Preisträgerin bei Plácido Domingos Operalia-Wettbewerb (2016) sorgt zwar schon in Spintosopranrollen wie Tosca, Madama Butterfly oder Santuzza bzw. im deutschen jugendlich-dramatischen Fach (Salome, Elsa, Senta) von der MET bis an die mythischen Opernhäuser Europas für Furore, hat sich aber genügend lyrische Qualitäten und die Fähigkeit zu fantastisch tragenden Piani erhalten, sodass das jetzige Rollendebüt zu einem persönlichen Triumpf geriet. Liù, oft nur als hübsche Nebenrolle betrachtet, wird durch so ein Stimmkaliber wie dasjenige der Stikhina zu einer echten Gegenspielerin von Turandot. Die Konfrontation von Turandot mit Liù („Tanto amore secreto,..“) im dritten Akt wird, wenn zwei Power-Sopranistinnen wie Stikhina und Monastyrska aufeinandertreffen, zu einem spannenden Showdown vor dem Finale. Liùs Arie „Tu che di gel sei cinta“ habe ich trotz live-Erlebnissen mit Ricciarelli & Co. noch nie so aufregend und schön gesungen zugleich gehört wie von Stikhina.
Auch beim Soloapplaus erhielt Stikhina den stärksten Zuspruch vom Publikum, dicht gefolgt vom Calaf des Riccardo Massi. Der italienische Tenor, der vor seiner Karriere als Opernsänger u.a. als Stuntman für Filme wie Martin Scorseses „Gangs of New York“ an der Seite von Leonardo DiCaprio arbeitete, vermag der Rolle des Calaf viel an vokaler Geschmeidigkeit abzugewinnen. Das virile Timbre mit sinnlichem Schmelz, die überzeugende schauspielerische Gestaltung und die gewinnende Bühnenerscheinung machen ihn zu einem idealen Interpreten von italienischen Liebhaberrollen. Die metallisch garnierten, nie übersteuerten und stets leichtgängig angesteuerten Höhen setzt er ohne übertrieben heldische Attitüde ein. Das ‚Vincero‘ von „Nessun dorma“ hält er gefühlt endlos. Manche Portamenti – nun ja – bleiben wohl Geschmackssache.
Als Turandot war wieder Liudmyla Monastyrska aufgeboten. Ursprünglich war für diese Serie Sondra Radvanovsky angesetzt. Monastyrska weiß, wie man in dieser monströsen Rolle mit viel Piani in „In questa reggia“, Ökonomie und stimmlicher Vorsicht über die Runden kommt. Die extreme Höhe klang diesmal freier als in der von mir besuchten Vorstellung am 9. Juli dieses Jahres. Monastyrska ist und bleibt eine beeindruckende Interpretin der Titelrolle, weil sie genau dort, wo es darauf ankommt, stimmlich Farbe bekennt und zudem in der bildgewaltig surrealen Produktion von Philipp Stölzl auch darstellerisch voll überzeugt.
Rundherum hörten wir an diesem Abend Erstklassiges: Vor allem René Pape als stimmlich vollmundiger, menschlich anrührender Timur und die mit Jaka Mihelač (Ping), Andrés Moreno Garcia (Pang) und Siyabonga Maqungo (Pong) unüberbietbar gut besetzte Ministertrias überzeugten nicht nur mich, sondern den Ovationen nach zu schließen das gesamte Publikum ohne Wenn und Aber.
Foto: Dr. Ingobert Waltenberger
Am Pult der Staatskapelle Berlin waltete die Dirigentin Keri-Lynn Wilson, Gründerin und musikalische Leiterin des Ukrainian Freedom Orchestra, mit einem guten Sensorium für die exotisch schillernden Farben, die stupende Modernität der Partitur sowie dramaturgischer Stringenz. Sie hielt die Zügel gerade in den großen Chorszenen straff in der Hand. Wenn noch nicht alles zwischen der forsch aufspielenden Staatskapelle und der Bühne zu 100% zusammenlief, so bieten die noch kommenden Aufführungen am 18., 21. und 25. September die Gelegenheit, ganz zueinander zu finden.
Fazit: Eine optisch überwältigende, stimmlich glanzvolle Repertoireperle!
Dr. Ingobert Waltenberger