BERLIN Staatsoper im Schillertheater The Turn of the Screw, 22.11.2014
Der junge Wiener Countertenor Thomas Lichtenecker brilliert als Miles – A star is born!
Emma Bell (Governess), Thomas Lichtenecker (Miles). Foto Monika Rittershaus
Erdrosselt mit wallender Mähne nach hinten gelehnt, liegt Lichtenecker als Miles am Ende der Oper im Stuhl am festlich gedeckten Tisch. Die wahnsinnig gewordene Gouvernante hat im letzten Kampf mit dem sie herausfordernden Geist Peter Quint den Sieg durch Vernichtung des Geliebten davongetragen. Ruhig sitzt sie im Stuhl, genau dem Toten gegenüber, bindet sich die Serviette um und beginnt mit dem Mahl. „Lost in my labyrinth, I see no truth, only the foggy walls of evil press upon me.“ Yeats
Ein Schluss wie aus einem spannenden Tatort, den Regisseur Claus Guth als genuine Lesart des von Britten mit einer formal genialen, gleichermaßen spröd wie sinnlichen Komposition in Musik getauchten Geister-, Psycho-, viktorianischer Moralgeschichte von Henry James anbietet. Guths roter Faden zielt darauf ab, dass es sich bei all den verrückt obsessiven Ereignissen in der Oper um die Vorstellungen der Gouvernante handelt. Das Drama um die Bewusstheitsfindung in sexuellem Erwachen zum Onkel/Vormund der beiden Jugendlichen Flora und Miles, später in den geheimnisvoll schönen Miles projiziert, versetzt die Gouvernante in einen „schizophrenen Zustand zwischen Wollen und Verbot.“ Reales löst sich auf, die von Bühnenbildner Christian Schmidt geschaffene karge Szenerie des Landguts Bly von sich im Kreise drehenden weinroten Wänden mit Fenstern und Türen in variablen Settings gerät zum Labyrinth des Schreckens für die Gouvernante. Wie in einem Prater-Ringelspiel drehen sich Wände und Menschen in beschleunigtem Alptraum um die erotisch Verlorene, wo vor allem das Finale des ersten Aktes zu einem Parforceritt seelischer Zwangsal wird. Die Stimmen des zu Tode gekommenen Dieners Quint und der jungen Zofe Jessel mischen sich unheilvoll in das (imaginierte?) sado-masochistische Spiel von Miles und Flora und die libertinen Eskapaden einer nächtens dem Alkohol verfallenen Haushälterin Mrs. Grose.
Mich erinnert das feste formale Korsett der Komposition (zwei Akte mit acht Szenen flankiert von sechzehn orchestralen Zwischenspielen, interpretiert von dreizehn Musikern) und deren Auflösung durch Guths und Schmidts Bilder- und Personenreigen an den 68-er Film Teorema oder die Mühlen der Leidenschaften von Pasolini. Wie der Gast, dargestellt von Terence Stamp, in dem berühmten Film, genügt Miles Präsenz eines androgynen beherrschten, lasziven Jungen, um alle rund herum in viktorianische Spießbürgerlichkeit Verfallenen in existenzielle Bedrängnis zu bringen. Das steht so sicher nicht im Buch, ist aber ein genialer Handstreich der Regiearbeit Guths, Brittens Generalthema der progressiven Degeneration von unberührter Schönheit sicht- und fassbar zu machen. Die Theorie des Stücks ist das eine, wie Thomas Lichtenecker diese Exponiertheit mit sparsamen Bewegungen und unverkennbar luxuriös timbriertem Tenor umsetzt, ist die eigentliche Sensation des Abends. Die von Britten zu Miles oftmals eingesetzten Bratschenklänge harmonieren bestens mit den Kupferfarben der ruhig geführten Stimme. Als allzu jung gefallener Engel (hier gleicht er auch ein wenig dem sein Geheimnis hütenden Tadzio aus „Death in Venice“) offenbart Lichtenecker als Miles die Leere der in engen Sitten Befangenen. Der brüchige viktorianische Mummenschanz, verkörpert durch die Gouvernante, aber auch das rigide Schulsystem (aus dem Miles logischerweise fliegt) muss angesichts von so viel Normenbruch bei aller Selbstbeherrschung resignieren. Nur später umso rückhaltloser zurückzuschlagen. Ausgrenzung und Mord als finale Logik eines Romans und einer Oper, die wenig Konkretes preisgeben, außer der fast schon in Kant‘scher Imperativmanier enthaltenen Warnung vor dem Gleiten aus dem gesellschaftlichen und individuell-inneren Gleichgewicht.
Die musikalische Umsetzung im Schillertheater findet insgesamt auf allerhöchstem Niveau statt. Allen voran ist Emma Bell zu nennen, die mit dramatischem Sopran als Gouvernante ein stimmlich höchst eindringliches Porträt einer aus ihrer Normalität Gefallenen zeichnet. Guths Handschrift zeigt sich dann am stärksten, wie er mit vielen kleinen Details eine Entwicklung nachzuzeichnen vermag. Faszinierend, wie Emma Bell als Gouvernante das fast unmerkliche Abdriften bis zum vollkommenen Abgleiten in eine andere Welt ohne Wiederkehr mit fataler Konsequenz verkörpert. Sekundiert wird sie in Bly von der ebenfalls unheimlich-doppelbödigen Mrs. Grose der Marie McLaughlin. Mir noch bestens als Mozart-Sängerin in Wien etwa unter Abbado in Erinnerung, ist Frau McLaughlin zu einer bedeutenden Charakterdarstellerin gereift, ohne an Stimme eingebüßt zu haben. Erstaunlich, was ihr an vokalen Ausdrucksmitteln zur Verfügung stehen, die Duette und Ensembleszenen mit der Gouvernante strömen in bester Harmonie. Richard Croft singt den Monolog sowie die Einwürfe des Peter Quint aus dem Off in Pears-Manier, mit hellem ausdrucksstarkem Ton und damit idiomatisch ideal für Britten. Die junge Sonia Grané aus dem Opernstudio der Staatsoper Unter den Linden vollbringt die Heldenleistung, als ihrem Bruder Miles in inzestuöser Liebe hingegebener Schwester in diesem Ensemble nicht nur bestehen zu können, sondern eine eigenständige Figur abzuringen, der die volle Sympathie des Publikums gehört. Ein auch am Schlussapplaus ablesbarer großer persönlicher Erfolg der jungen Künstlerin. Anna Samuil leiht ihre Stimme der ebenfalls wie Quint auf der Bühne nicht sichtbaren gespenstisch umtriebigen Miss Jessel.
Das Orchester der Staatskapelle Berlin in kleiner Formation (2 Violinen, Bratsche, Cello, Kontrabass, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Pauken und Harfe) mit dem hervorragenden David Robert Coleman am Klavier wurde von Ivor Bolton geleitet. Die Instrumentalisten in diesem Britten-Krimi haben von kammermusikalisch knappen Kommentaren bis hin zu Cinema-scope-artig filmmusikalisch inspirierten Geister-und Spannungsklängen, von idyllischer Lautmalerei bis aufgepeitschten Klagen hysterisch geprägter Verlorenheit eine unglaubliche Bandbreite zu bewältigen. Ivor Bolton führt als musikalischer Spiritus Rector mit Inspiration das leuchtende Band, das aus allen Einzelszenen diesen Sog entstehen lässt, dem sich kein Zuhörer entziehen kann. Diese Spannungs-Schraube, in der Wort und Musik kongruent in die Bühnenaktion fließen, und letztlich zur kathartischer Befreiung führt. Nach verdient großem Applaus für alle Beteiligten viele glückliche Gesichter rundum.
Dr. Ingobert Waltenberger