Blumen für Domingo. Foto: Thomas Bartilla
Berlin/ Staatsoper: packende „LA TRAVIATA“ in besonderer Besetzung, 19.01.2020
„La Traviata“, schon oft erlebt. Verdis unsterbliche Melodien füllen Ohren und Herzen. Ob aber solch eine Wiederbegegnung zu einem Ausnahmeabend wird, entscheidet sich nicht beim anfänglichen Liebesgeplänkel zwischen Violetta und Alfredo Germont, sondern beim Showdown zwischen ihr und dem Vater Giorgio Germont.
Das ist die Schlüsselszene dieser Oper, an der alles Weitere gemessen wird. Die muss überzeugen, stimmlich und darstellerisch. Gutes Singen allein reicht in diesen langen verstörenden Minuten nicht.
Hier ist der ganze Mensch gefordert, die Sängerin der jungen, schon todkranken Kurtisane ebenso wie der Sänger des Vaters, der sich nicht nur um seinen Sohn sorgt. Der will die Familienehre bewahren und auf diese Weise auch seine Tochter lukrativ verheiraten. Dieser Mann setzt den imaginären Dolch an, der mitten ins Herz einer Schutzlosen trifft.
Wenn nun der 78jährige Plácido Domingo – vom Beifall des Publikums begrüßt – etwas bedächtig die Bühne betritt und zu singen beginnt, dann gewinnt diese Schlüsselszene soviel an Leben und bösartiger Wahrhaftigkeit, dass es graust und sich vor Empörung die Haare sträuben müssten.
Domingo als zunächst Eiskalter, der diese ehemals umschwärmte Kurtisane, die nun sittsam mit ihrem geliebten Alfredo auf dem Lande lebt, gnadenlos zum Äußersten treibt, zum Verzicht auf den einzigen Menschen, der sie richtig liebt und auf ihre eigene Liebe.
Hart sind dabei Domingos Züge, betont hart klingt auch seine Stimme. Noch tiefer ist sie geworden, hat etwas an Klangfülle, Timbre und Schmelz eingebüßt. Welche Kraft steckt aber noch immer in ihr. Sie passt in diesen Momenten genau zu dem Egoisten, der eine Wehrlose erpresst. Schon allein Domingos Bühnenpräsenz könnte die Partnerin einschüchtern.
Zuzana Marková, die 31jährige, international viel beschäftigte tschechische Sopranistin ist ihm jedoch zumindest ebenbürtig. Als von ihrer Krankheit geschwächte Violetta, aber voller Selbstbewusstsein, begegnet die vom Bürgertum Geächtete diesem Mann. Als Violetta ihm klarmacht, dass sie ihren ganzen Besitz verkaufen will, um die Liebe zu seinem Sohn zu finanzieren, geht Giorgio Germont sichtbar und hörbar in sich.
Doch nicht lange. Schnell wird er trotz einiger Mitleidsanwandlungen, bei denen er kaum wagt, das Haar der vor ihm Knienden zu streicheln, wieder der egoistische „Clanchef“, der alle psychologischen Tricks anwendet, um sein Ziel zu erreichen und für sie nur billigen Trost parat hat. Aus Liebe zu Alfredo gibt sie bekanntlich den ungeheuerlichen Forderungen nach.
Mit der mädchenhaften Zuzana Marková in dieser Rolle hat die Staatsoper Berlin einen Glücksgriff getan. Aus ihrem Glitzersopran während der ersten Szenen wird nun die Stimme einer tapfer Leidenden, einer Frau, die endlos und selbstlos liebt. Mit Tonfärbungen vom Piano bis zum Forte kann sie alles schildern: Angst, Todesgewissheit, Verzweiflung, Opferbereitschaft, Funken von aufkeimender Hoffnung und strahlendes Glück. Dass Verdi diese Oper brutal „amore e morte“ nennen wollte, was die Zensur ihm untersagte – wird hier begreifbar.
Steht nun der Junior Alfredo Germont, wie öfter, gegenüber diesen beiden bestimmenden Persönlichkeiten auf verlorenem Posten? An diesem Abend gewiss nicht. Einmal ist das dem schönen und treffsicheren Tenor von Benjamin Bernheim zu verdanken, der im Verlauf dieses Abends aus einem Sänger zum Menschen wird, wild in Zorn und Eifersucht, dann übermannt von Reue und Liebe. Und es ist schließlich Zuzana Marková, die sich Domingo als Vater Germont in die Arme wirft, damit er sie als Geliebte seines Sohnes akzeptiert.
Dann der nächste Showdown zwischen Vater und Sohn. Nun versucht der alte Germont die Liebe Alfredos zurück zu gewinnen. „Di Provenza il mar, il suol chi dal cor ti cancellò?“ Der vom Sohn enttäuschte, aber auch vor Selbstmitleid strotzende Vater drückt hier heftig auf die Tränendrüsen. Domingo singt das nun weicher und gefühlvoller, aber voller Kraft. Danach sofortiger Jubel und viele Bravo-Rufe. Doch Markovás intensive und überaus glaubwürdig gestaltete Sterbeszene überstrahlt selbst dieses und berührt zutiefst.
Dass solche wahrhaftig wirkenden und durchaus lebensprallen Szenen wohl alle im ausverkauften Saal in ihren Bann ziehen, ist der Inszenierung von Dieter Dorn aus dem Jahr 2015 zuzuschreiben. Das gilt ebenso fürs Bühnenbild von Joanna Piestrzyńska und die Kostüme von Moidele Bickel. Allerdings wären die drei so emotional agierenden und singenden Hauptfiguren wohl auch auf total nackter Bühne bejubelt worden.
Zum musikalischen Glanz haben noch weitere Sängerinnen und Sänger ihr Scherflein beigetragen: Als Flora Bervoix: Natalia Skrycka, als Annina: Constance Heller, als Gastone: Andrés Moreno García, als Barone Douphol: Adam Kutny, als Marchese d’Obigny: Grigory Shkarupa und als Dottore Grenvil: Jan Martiník. – Angenehm klingt auch der Staatsopernchor, einstudiert von Anna Milukova.
Dieser Gesamterfolg ist nicht zuletzt dem 25jährigen Dirigenten Thomas Guggeis zu verdanken, der am 16. Januar 2020 zum Kapellmeister ernannt wurde. Der drischt nicht mit jugendlichem Eifer drauf los. Der ist offenbar zarter besaitet und investiert eigenes Gefühl. So innig war die Staatskapelle Berlin an den tragischen Stellen bisher selten zu hören, doch das Zupacken gelingt ihm genau so gut.
Schlussbeifall mit Placido Domingo und Zuzana Markova. Foto: Thomas Bartilla
Begeistert küsst nun Zuzana Marková den Dirigenten, als sie ihn zum Schlussbeifall auf die Bühne zerrt. Im „Metoo-Zeitalter“ müssen halt die Frauen die Initiative ergreifen, damit die Männer nicht in den Verdacht der Übergriffigkeit geraten.
Zuletzt „standing ovations“ insbesondere für Zuzana Marková, Plácido Domingo, Benjamin Bernheim und Thomas Guggeis. Blumensträuße mit zumeist roten Rosen fliegen auf die Bühne, dankbar drückt Domingo den seinen an die Brust. Dass auch Wiener zu dieser „La Traviata“ nach Berlin gekommen sind, hatte ich schon in der Pause erfahren.
Ursula Wiegand