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BERLIN/ Staatsoper: LA BOHÈME – Che m’ami…di’…– Dernière von Giacomo Puccinis “La Bohème”

09.01.2023 | Oper international

Che m’ami…di’…– Dernière von Giacomo Puccinis “La Bohème” an der Staatsoper unter den Linden Berlin, am 7.1.2023

Zu den wichtigsten Momenten eines Lebens gehören jene, in denen man bedingungslos geliebt hat und in der Rückschau auf die eigene Vergangenheit sind diese Momente jene, welche wohl auch bei einem unglücklichen Ausgang in bester Erinnerung gehalten, gepflegt und in den eigenen Gedanken museal konserviert werden. So sehen wir in der Inszenierung von Lindy Hume nicht nur die wohlbekannten Bohèmiens auf der Bühne, sondern auch einen gealterten Rodolfo, welcher seinen Erinnerungen nachgeht. In Form einer Schneekugel hält er diese in der Hand und erinnert sich, im schweren Ohrensessel sitzend, an jene Tage in Paris, als er mit den Künstlerfreunden im Quartier Latin sitzt und die Liebe seines Lebens an einem Weihnachtsabend kennenlernt.

Was ist das eigentlich für eine wunderbare Geschichte? Es ist Weihnachten im Quartier Latin, die Künstler frieren zwar, doch können das Leben ganz unbeschwert ohne Verpflichtungen leben. Da kommt erst Schaunard mit Vorräten und Geld, dann klopft sprichwörtlich die Liebe an die Tür. Bereits zu Beginn dieser Inszenierung wird klar, dass diese bewusst eine verklärte Perspektive auf die Jugend darstellen will und das auch gar nicht kritisiert, im Gegenteil. Hier werden mit uns ganz intime, persönliche und wunderschöne Erinnerungen an unvergessliche Momente geteilt. Indem Frau Hume die Handlung von der Belle Epoque in die 1930er/ 40er Jahre legt, verliert sie auch an Distanz und wird für uns greifbarer, ja realistischer. Damit wird sie auch persönlicher und vergrößert die Intimität der Erinnerungen deutlich größer. Letztlich steigert das nicht nur die Intensität des Librettos und die Art und Weise in der La Bohème immer wieder zu berühren vermag. Es ist auch wesentlich für die Charakterzeichnung, die wir hier sehen.

So ist Rodolfo mitnichten eine Art Draufgänger. Er ist vielmehr ein sehr sensibler, fragiler Künstler, der deshalb auch empfänglich ist für die Liebe, die hier an die Türe klopft und unverhofft in sein Leben platzt. Stefan Pop ist dabei eine ideale Besetzung, denn er setzt selbst sehr viel Gefühl und wohl (genau wissen wir es nicht) sehr viel persönliches Herzblut in die Rolle. Sein Rodolfo ist fragil, empathisch, sensibel und voller Wärme, wir spüren das ab dem ersten Takt. Die Bohème bekommt somit einen anderen Spin, denn Rodolfo ist mitnichten vor allen Dingen auf die Möglichkeit zentriert jemand um der Liebe wegen lieben zu wollen. So ist normalerweise das Verdrängen des Todes von Mimì im letzten Bild etwas, was doch die Frage aufwirft, ob Rodolfo wirklich Mimì liebt, oder das Lieben an sich benötigt um sich selbst zu finden. Bei Herrn Pop ist Rodolfo jemand, der mit Haut und Haaren, ja jeder Pore seines Körpers, jedem Atemzug und jedem Herzschlag Mimì völlig selbstlos liebt.

Da steht nun plötzlich im Kerzenschein dieses kleine Persönchen, was ebenso zart und einfühlsam ist wie seine Kunst, die seinem Innersten Ausdruck verleiht und nun Realität wird. Rodolfo ist in dieser Bohème ebenso fragil wie Mimì und die Liebe, die wir hier auf der Bühne sehen, saugt uns nahezu auf. Wir werden eingepackt in eine herzerwärmende Woge des Gefühls und wir genießen jede Sekunde, weil es so herzlich, echt und einfach zeitlos schön ist. Bravo, bravissimo Herr Pop, was für ein grandioser, wirklich liebender Rodolfo!

Gleiches lässt sich über Anna Princeva sagen, die als Mimì die ideale Ergänzung zu Stefano Pop darstellt. Auch hier ist Mimì anders, als wir es aus sonstigen Abenden der Bohème kennen: Hat man sonst doch den Eindruck, das Mimì ganz unbewusst von ihrem baldigen Tod weiß und vorher noch einmal das Leben genießen will, wie sie es vielleicht sonst nie könnte, bringt Frau Princeva eine Mimì auf die Bühne, die sich ihrer Krankheit und den damit verbundenen Folgen gar nicht bewusst ist. Nein, diese Mimì liebt vollkommen drauf los und plant die Umsetzung dieser Liebe von langer Hand. Sie will diesen Mann, sie will Rodolfo. Weil er so sensibel und einfühlsam ist, weil er das Herzblut seine Wünsche, das er in seine Literatur liegt auch in die Herzlichkeit seines Seins und seines Handelns legt. Sie will mit ihm alt werden und damit ihr Glück und ihre Erfüllung finden. Und es gelingt ihr im Handstreich Rodolfo dafür einzunehmen und diesen Wunsch mit ihr zu teilen. „Che m’ami…di’…” – “Io t’amo”.

Im Hintergrund sehen wir mehrmals ein altes Paar, welches in der Statisterie gemeinsam über die Bühne tanzt. Darstellung der Gedanken Mimìs, wie sie mit Rodolfo alt werden will und ein Gedanke, den auch er in voller Liebe übernimmt und nun, im Alter wieder vor seinem geistigen und unserem zusehendem Auge vorbeiziehen lässt. Frau Princeva gelingt es tadellos diese aufrechte Liebe musikalisch und darstellerisch auf die Bühne zu bringen. Auch hier stellen wir uns die Frage: ist das noch gespielt oder schon echt? Brava, Bravissima Frau Princeva, wir werden hinweggetragen auf einer Welle voll wonnigen Gefühls.

Dass sich am Ende Frau Princeva und Herr Pop vor dem Vorhang weinend in den Armen liegen ist also keine Überraschung, sondern die logische Konsequenz der Emotionen, welche beide in ihre Rollen gesteckt haben. Wir fühlen wahrhaft mit und sind ehrlich ergriffen! „Amor! Amor! Amor!“

Auch die anderen Rollen sind tadellos besetzt: Evelin Novak legt ebenfalls neue Aspekte in ihre Musetta. Diese ist hier tatsächlich ein berechnendes Miststück (pardon), das die Männer wechselt wie ihre Haarfarbe (zunächst blonde Wasserwellen, dann schwarzer Bubikopf). Hier ist eine Frau in der Selbstfindung, die Männer sind ihr dafür nur ein Mittel zum Zweck – auch Marcello. Er ist eine Herausforderung für sie, da er sich lange erfolgreich sträubt von ihr erobert zu werden. Doch natürlich gelingt es ihr und sie hat keine Sekunde lang einen Zweifel an diesem Gelingen. Sie kennt die Waffen einer Frau und weiß sie anzuwenden. Hier ist keine unglückliche Beziehung zwischen Musetta und Marcello zu sehen. Nein, Musetta will das Heft des Handelns in der Hand behalten und duldet keinen Widerstand: „Marcello mi vide… E non mi guarda il vile! Quel Schaunard che ride! Mi fan tutti una bile! Se potessi picchiar, se potessi graffiar!”. Hier steht nur Musetta im Mittelpunkt, Widerstand ist zwecklos. Entsprechend fulminant gelingt Frau Novak Musettas Walzer ebenso wie die Trennung von Marcello im 3. Bild. Ausdrucksstark, berechnend, präzis und umwerfend. Liebe ist süßer als Honig sagt Mimì („Amare è dolce ancora più del miele”) doch nicht für die Opfer Musettas: „Secondo il palato è miele o fiele!“ antwortet Rodolfo. Brava bravissima Frau Novak, diese Musetta schlägt einem rücksichtlos ins Gesicht und verdutzt stellen wir fest, daß es gefällt.

Entsprechend „bemitleidenswert“ ist Adam Kutny als Marcello: Fabelhaft authentisch und wir fühlen mit. Natürlich weiß dieser Marcello, daß er Musetta weder halten noch gegen sie gewinnen kann. Aber will er das überhaupt? Natürlich hat dieser Marcello etwas Masochistisches, doch wie sagt das Sprichwort so richtig. „Eifersucht ist eine Leidenschaft, Die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.“ Marcello braucht das, will das und bekommt das. Der erlösende Aspekt in der völligen Hingabe zu einer Frau kann auch bereichernde Aspekte haben und gerade ein Künstlerseele wie die des Marcello findet hier eine Form der Reinigung, aus der man gestärkt und dann unbeschwert hervorkommt: Er findet am Ende zu sich selbst und erst der unerwartete Tod Mimìs wirft ihn – wie auch alle anderen Künstler aus der Bahn. Wie gesagt, Liebe ist nicht immer ein Honigschlecken und die paradiesische Zweisamkeit von Mimì und Rodolfo darf auch nicht ewig währen. Das Duo Musetta und Marcello ist damit wichtiger als es scheint und nicht umsonst ist das eifersüchtige Spiel zu den Klängen von „Quando m’en vo“in der Mitte der Oper angesiedelt. Puccini ist hier noch ganz dem Verismo verpflichtet und mahnt uns nicht zu vergessen, daß auch die schönste Liebe irgendwann von der Realität eingeholt werden wird, wie auch immer diese aussehen mag. Adam Kutny ist hier ausgezeichnet besetzt, er wirkt als Freund auf Rodolfo ein, nachdem dieser – zum Schutz – behauptet, Mimì sei nicht treu. Er wäscht ihm sozusagen den Kopf, er ist für ihn da als Mimì sterben muss. „Coraggio“ist hier nicht nur Mitleid. Es steht auch für das tatsächliche Mitleiden, welches Marcello in seiner – fast schon toxischen – Beziehung zu Musetta in ähnlicher Weise immer wieder erleben musste. Seine Stimme spiegelt das genau wider, sein Bariton kämpft dynamisch für sein begehren nach Musetta und ist gleichzeitig einfühlsam und berührend, wenn es um Emotionen und Verletzlichkeit geht. Ein Marcello mit großer Tiefe, bravo bravissimo Adam Kutny!

Auch Carles Pachon als Schaunard muss lobend erwähnt werden, mit Elan bringt er den vernünftigsten der Künstlergruppe auf die Bühne, nicht ohne gehörigen Schalk im Nacken: Am Weihnachtsabend mit Vorräten auftauchend oder Sonnenbadend auf dem Dach des Künstlerquartiers, das ist gekonntes Handwerk, bravo Herr Pachon. Ebenso David Oštrek als Colline, der in der Mantelarie zu glänzen weiss: Auch hier zeigt sich aufrechtes Mitgefühl, auch hier die Erschütterung über die erbarmungslose Härte, mit der die Realität in das sonst so sorglos scheinende Leben der Bohèmiens hineinplatzt. Mit dieser Arie kann man viel falsch machen, Herr Oštrek hat alles richtig gemacht, bravo!

Die gesamte Besetzung ist also wirklich rund und in sich stimmig, dazu ideal passend zur Inszenierung von Lindy Hume. Und zu guter Letzt kommt hier etwas sehr Wichtiges zum Tragen, was bei Puccini nicht relevanter sein könnte: Der berüchtigte „deutsche Klang“. Die Frage ist ohnehin immer so eine schwierige, wenn es um dezidierte Klänge geht. In Wien sind wir den „goldenen Wiener Klang“ der Philharmoniker gewohnt, ein Klang der einerseits durch den Ziegenfellbezug der Pauken und Trommeln, eine engere Mensur bei den Holzbläsern entsteht aber auch angeblich durch die Verschleppung des Taktes.

An diesem Abend an der Lindeoper (genauso wie auch am folgenden an der Deutschen Oper) haben wir einen deutlichen Unterschied gehört. Dieser Klang war präziser, sauberer, aber nicht härter. Wir kennen dieses Phänomen von Dirigaten Christian Thielemanns, der Werke oftmals nahezu seziert, um sie neu zusammenzusetzen. Ganz ähnlich an diesem Abend, hier kommt selbst der leiseste Paukenschlag zum Tragen und erhält somit die Wirkung, die Puccini angedacht hat. In Wien hören wir diesen gar nicht, er geht schlicht unter, wird verschludert. Das mag beim Neujahrskonzert charmant sein, beim Verismo Puccinis geht etwas verloren. Ganz offenbar hat Daniel Barenboim hier als Generalmusikdirektor der Lindenoper bemerkenswerte Arbeit geleistet und ein Orchester gebildet, das um diese Präzision weiß. Massimo Zanetti hat an diesem Abend unter seinem Baton schließlich die ebenso wichtigen italienischen Aspekte der Musik Puccinis mit eben jenem präzisen, deutschen Klang der Staatskapelle Berlin vereinigt und ein fabelhaftes Klangbild erzeugt, das neue Perspektiven auf das Werk eröffnet.

Moment mal, deutscher Klang bei Puccini? Ja, das geht! Denn schließlich war dieser nicht nur ein großer Bewunderer Wagners. Wir haben schon vom Verismo in der Bohème gesprochen und dieser sucht keine Verspieltheit, sondern präzise und teils harsche Beschreibung der Realität. Dieser braucht also die Präzision in der Musik. Erst durch die Präzision der Musik schließt sich der Kreis eines Abends, an dem nicht nur die Charaktere auf der Bühne sehr präzise und fein gearbeitet sind, sondern auch das Orchester ebenso präzise und fein diese unterstützt und verstärkt. Wir werden feiner Nuancen gewahr und sehen viel deutlicher einzelne Aspekte und Details. Eben ganz reale, teilweise verklärte Erinnerungen an die große Liebe am Ende eines erfüllten Lebens, auf das der alte Rodolfo versöhnt zurückblickt. Berührend, bewegend und auch uns zu Tränen rührend. Einfach wunderschön!

Eric A. Leuer

 

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