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BERLIN/ Staatsoper: JULIETTE von Bohuslav Martinů. Bejubelte Premiere

29.05.2016 | Oper

Berlin/ Staatsoper: „JULIETTE“ von Bohuslav Martinů, bejubelte Premiere, 28.05.2016

Juliette, Rolando Villazón (Michel) und Magdalena Kožená (Juliette), Foto Monika Rittershaus
Rolando Villazón (Michel) und Magdalena Kožená (Juliette), Foto Monika Rittershaus

„Träume sind Schäume“, lautet ein altes Sprichwort. Sind sie das, oder offenbaren sie innerste Sehnsüchte, Ängste oder Aggressionen, wie Sigmund Freud es erforschte? Oder führen sie sogar bis zum Verlust der eigenen Identität, wie – verkürzt gesagt – Frankreichs Surrealisten Anfang des 20. Jahrhunderts meinten.

Gleich zu Beginn wischt sich ein Mann im schwarzen Anzug an der linken Bühnenecke immer wieder das Blut von der Hand und versteckt seine Pistole hektisch in einer Schublade. Es ist Rolando Villazón als Michel. Er wird hier, das sei vorab bemerkt, zur tragenden Figur der lyrisch-surrealistischen Oper „Juliette“ von Bohuslav Martinů, der auch zusammen mit Georges Neveux das Libretto verfasste. Vorlage war dessen Theaterstück „Juliette ou la Clé des songes“(der Schlüssel der Träume).

Michel weiß nicht genau wo er ist. Vermutlich befindet er sich in einem Hotel in irgendeiner französischen Hafenstadt. Dort stand er, ein fliegender Buchhändler aus Paris, vor drei Jahren vor einem Fenster und lauschte völlig fasziniert dem Liebeslied einer schönen Frau. Aus Furcht, sich in sie zu verlieben, floh er. Doch einen leuchtend roten Schal, den er ihr – passend zum gleichfarbigen Kleid – angeblich geschenkt hatte, trägt er stets wie einen Talisman bei sich (Kostüme: Eva Dessecker).

Nun ist er nach 3 Jahren wieder hier, jedoch in einem Ort, in dem alle nicht „normal“ sind und sich niemand an Früheres erinnern kann. Alles so genannte Geistesgestörte, die man früher in die Irrenanstalt steckte. Traumwandlerische Menschen, denen auch die Gegenwart weitgehend abhanden kommt.

Von dieser sonderbaren Stadt ist allerdings nichts zu sehen. Das Geschehen spielt während der 3 Akte in einem zunächst total schmucklosen Raum mit weißen und hellgrauen Platten an den Wänden (Bühnenbild: Alfred Peter), der sich später dank einer riesigen Pflanze in einen imaginären Wald verwandelt und im dritten Akt durch Theaternebel in den Hintergrund gedrängt wird. Eigentlich eine größere Zelle, in der Michel gefangen ist, eine Traumwelt, aus der es letztlich für ihn kein Entrinnen gibt.

Die aufs Notwendigste reduzierte Spielfläche passt zur Inszenierung von Claus Guth, der die Protagonisten mit leichter Hand und mit teils abgründigem Humor durchs diese Unwirklichkeit führt. Dass es sich um eine Traumwelt handelt und Michel auch unter einem Trauma leidet, wird erst später klar.

Darüber hinaus scheint Guth auch anderes mit einzubeziehen, was bei der Entstehung von Theaterstück und Oper (die 1938 in Prag uraufgeführt wurde) noch kein allgemeines Thema war: die Demenz, die ebenfalls dem Verlust von Erinnerung und Gegenwartserkennung einhergeht. – Jedenfalls ist es für mich die beste und schlüssigste Inszenierung, die ich bisher von Herrn Guth erlebt habe. Auch können er und seine Mitstreiter/innen das gesamte Publikum überzeugen, denn das Regieteam wird zuletzt ebenfalls heftig umjubelt.

Die Oper selbst ist mir und vermutlich den allermeisten an diesem Abend in der Staatsoper im Schillertheater unbekannt, doch sind wir damit sozusagen in bester Gesellschaft. Selbst für Daniel Barenboim ist dieses Dirigat eine Premiere. Er nimmt den lyrisch-schwebenden Faden zunehmend auf. Im Verlaufe des Abends versenken sich er und die Staatskapelle Berlin immer mehr in die Sogwirkung dieser Traumwelt-Musik, und so wird es ein faszinierender Abend.

Den trägt, wie schon erwähnt, Rolando Villazón, der fast ohne Unterlass agiert. Dem behänden, oft nervös wirkenden Mexikaner ist die Rolle auf den Leib geschrieben. Er hat sie inhaliert, spannt den Bogen von der Lächerlichkeit zur großen Tragik, vom Clownesken zu Trauer und Verzweiflung, von der Verängstigung bis zum freudigen Ja.

Dass sein Französisch reichlich unverständlich bleibt – geschenkt, zumal dieser geniale Schauspieler diesmal auch gesanglich beeindruckt. Die Rolle in der Mittellage ohne besondere Höhen kommt ihm entgegen. Die zahlreichen Rezitative sind ebenfalls von Vorteil. Im dritten Akt, in dem Power gefragt ist, überzeugt er mit Kraft und Klang. Großartig, wie er seine ewige Liebe zu Juliette heraus singt. Ihm gelten zuletzt Ovationen.

Ebenso der fabelhaften Magdalena Kožená als Juliette, eine Partie, in der sie den Faden aus „Pelléas und Mélisande“ (Ende 2015 eine halbszenischen Aufführung in der Philharmonie) dank Martinů weiterspinnen kann. Das Rätselhafte liegt ihr und ihrem wunderbar klaren Mezzo. Ihrem Lockruf „revenez“ (komm zurück), in dem auch das Wort „rève“ (Traum) steckt, muss Michel wider alle verbliebene Vernunft erliegen. Doch er ist nicht der einzige bei der Jagd auf diese hier wortwörtliche Traumfrau, offenbar eine Männerphantasie durch Zeit und Raum. Schon anfangs veranschaulicht eine Daumengruppe in Rot, dass es weit mehr als eine Juliette gibt.

Doch warum steht Michel gleich zu Beginn mit einer blutigen Hand und einer Pistole auf der Bühne? Das erklärt erst der 2. Akt mit der groß aufscheinenden Zeile: „ 24 Stunden früher“. Bei dieser Szene geht es um das Treffen von Michel und Juliette in einem Zauberwald unter einer Riesenpflanze. Auch sie besitzt keinerlei Erinnerung. Die Frage stellt sich, ob diese Juliette wirklich existiert oder nur ein Hirngespinst ist.

Nach ihrer Ansicht hat Michel sie nie verlassen, waren sie beide zusammen in Toledo und Sevilla, was er, noch mit etwas Verstand gesegnet, abstreitet. Beide herzen und küssen sich, Echos ihrer Stimmen hallen durch den Wald. Menschen reduziert auf Klangreste. Als er ihr jedoch seine Liebe schwört, reagiert sie genervt, lacht ihn aus, und Michel zieht die Pistole. Tot und blutend liegt sie am Boden. Er schleift die Leblose hin und her über den Boden, um die Leiche wegzuschaffen. Magdalena Kožená muss das aushalten.

Aber hat er überhaupt geschossen? Ist das nur ein Trauma? Der Waldhüter, der plötzlich auftaucht, hat einmal nach seiner Beute geschossen, keinen weiteren Schuss gehört und findet später auch keinen Blutfleck am Boden, wo Juliette gelegen hat. Richard Croft mit kräftigem Tenor punktet nicht nur in dieser Partie, sondern auch als Kommissar, Briefträger und Beamter.

Rätsel über Rätsel allenthalben, und weitere sonderbare Personen in Mehrfachrollen erhöhen noch das Diffuse. Der Wiener Countertenor Thomas Lichtenecker (!) agiert schönstimmig und gelenkig u.a. als Matrose, Wolfgang Schöne z.B. als Altvater Jugend, Elsa Dreisig mal als Herr, mal als Handleserin, die junge Sopranistin Adriane Queiroz als alte Dame und alte Frau sowie Natalia Skrycka als 2. Herr. Nur Florian Hoffmann darf sich – außer den beiden Hauptdarstellern – seiner Alleinrolle als Lokomotivführer widmen. Martinů hat das Geratter in die Partitur eingefügt.

Eigentlich hat Arttu Kataja u.a. als Verkäufer von Erinnerungen eine Schlüsselrolle, denn um die geht es. Michel, der nach dem Tod von Juliette schon die Schlinge des Galgens um den Hals trägt (im ersten Akt wohlgemerkt!), wird nach Kindheitserinnerungen gefragt. Ihm fällt nur eine mechanische Ente ein, die Villazón aus der Jacke zieht. Ihr Quak-Quak-Quak hat der Komponist humorvoll in eine Fuge gekleidet. Doch erst als Michel auch von der angeblichen Reise nach Toledo und Sevilla erzählt, gibt sich das nach Erinnerungen dürstende Volk zufrieden und ernennt ihn sogleich zum Bürgermeister. Eine Ehre, die Michel alsbald ablehnt.

Im dritten Akt wird der Nachtwächter wichtig (gesungen u.a. von Jan Martinik). Mit den Worten „wir schließen jetzt“ will er Michel aus der gefährlichen, Nebel umwaberten Traumwelt in die Realität zurücktreiben. Er soll dem Schicksal der Schemen entgehen, die diese Chance verpasst haben. Doch der hört nur die Lockrufe von Juliette hinter einer verschlossenen Tür und ignoriert die Warnung, dass dort niemand wäre.

Michel verpasst die Zeit, die Tür bleibt verschlossen, Juliettes Rufe sind verklungen. Der Exit ins Vergessen ist die Folge. Wie die anderen Bewohner des Städtchens wird er sogleich auch das nicht mehr wissen, was er gerade gehört hat.

Dennoch wirkt Michel, eingesponnen in seine Liebe zu Juliette, die er mit Wohllaut bekräftigt, irgendwie glücklich. Die Frage, ob solche Menschen noch irgendein Glück empfinden können bleibt unbeantwortet. Wer sich jedoch auf diese surrealistische Opernwelt einstellt, wird bei dieser gelungenen Aufführung ebenso glücklich. Das Ende sind hier vehementer Applaus und stehende Ovationen, neben dem Liebespaar auch für Barenboim und die Staatskapelle Berlin. Mit Beifall bedacht werden zudem die Chöre, einstudiert von Martin Wright sowie, wie erwähnt, das gesamte Regieteam.    Ursula Wiegand

Weitere Aufführungen am 2., 5., 7. 10., 14. Juni und 18. Juni

 

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