Berlin/ Staatsoper/ Live-Stream: „Jenufa“ von Leos Janacek Unter den Linden am 4.3.2021/
Im Banne des Eiskristalls
Evelyn Herlitzius. Foto: Live-Stream/ Staatsoper
Psychologische Extremzustände werden in der subtilen Inszenierung von Damiano Michieletto (Bühnenbild: Paolo Fantin; Kostüme: Carla Teti) bei Janaceks Oper „Jenufa“ auf die Spitze getrieben. Leos Janacek hat das Schauspiel der Gabriela Preissova selbst bearbeitet. Das mährische Gebirgsdorf im 19. Jahrhundert verwandelt sich hier in ein abstrakt-modernes Ambiente mit Stahlgerüsten, Holzbänken und einen Altar, der an eine Kirche erinnert. In der Mitte befindet sich ein großer Eiskristall, der die Kälte symbolisiert, die zwischen den handelnden Figuren herrscht. Der verzweifelte Steva traktiert den Eisblock mit dem Messer, nachdem er ihn aus dem Teppich gewickelt hat. Später wird auch die Küsterin einzelne Teile an sich reissen. Das Geschehen konzentriert sich dabei ganz auf die Personenkonstellationen, wobei die Personenführung hier im Zentrum steht.
Im ersten Akt steht der Konflikt zwischen dem von Jenufa geliebten Steva und dem von ihr kaum beachteten Laca im Mittelpunkt. Das Geschehen verdichtet sich sofort mit geballter Dramatik: Als Jenufa sich weigert, Laca weiter anzuhören, schlitzt der Eifersüchtige dem Mädchen die Wange auf. Geheimnisvoller Nebel umfängt dann den zweiten Akt in der Stube der Küsterin. Jenufa hat einen Sohn geboren – und mitten im Raum steht das Kinderbett. Die Küsterin erinnert Steva an seine Heiratspflicht, doch dieser ist inzwischen mit der reichen Richterstochter Karolka verlobt und will von einer Verbindung mit Jenufa nichts mehr wissen. Die Inszenierung arbeitet jetzt überzeugend heraus, wie tief der Stolz der Küsterin als Jenufas Ziehmutter getroffen ist: Sie will das Kind unter allen Umständen beseitigen. Unterdessen wirbt Laca erneut um Jenufa – und diese willigt ein. Gleichzeitig entdeckt Jenufa einen verhängnisvollen roten Faden, der auf die furchtbare Tat hindeutet.
Der dritte Akt zeigt die Brüchigkeit des Bühnenbildes, das im Zuge der Ereignisse zusammenzufallen droht. Die Hochzeitsgäste Steva und Karolka versammeln sich im Hause der Küsterin. Die Küsterin wird nun von schrecklichen Gewissensbissen gepeinigt. Draußen erhebt sich Lärm – und der Hüterjunge Jano berichtet, dass man im Mühlbach ein totes Kind gefunden habe. Die Wut der Menge richtet sich zunächst gegen Steva und Jenufa, die ohnmächtig niedersinkt. Doch die Küsterin bekennt ihre Schuld. Man erkennt plötzlich von der Decke fallenden Regen und ein großes Loch am Boden, in das die Küsterin schließlich zu versinken droht. Karolka trennt sich von Steva – Jenufa und Laca aber werden letztendlich ein Paar. Sie gehen dem Sonnenlicht entgegen. Das ist zweifellos der beste szenische Einfall.
Trotz ihrer Modernität gelingt es der Inszenierung von Damiano Michieletto, die geballte Dramatik des Geschehens zu betonen, wobei die folkloristischen Elemente eher in den Hintergund geraten. Hinsichtlich der szenischen Qualität muss man gelegentlich Abstriche machen. Unter der suggestiven Leitung von Simon Rattle musiziert die Staatskapelle Berlin mit eindringlicher Emphase, wobei die herben Elemente dieser Partitur im Vordergrund stehen. Aber auch lyrische Episoden kommen nicht zu kurz. Sprachrhythmus und kleinmotivische Deklamation werden von allen Sängern überzeugend getroffen. Breite melodische Steigerungen gewinnen vor allem bei Camilly Nylund als Jenufa und Evelyn Herlitzius als Küsterin eine enorme Intensität. Der eher lyrische Sopran von Camilla Nylund und der dramatische Sopran von Evelyn Herlitzius ergänzen sich ausgezeichnet. Auch Jenufas Gebet im zweiten Akt oder der Schlussgesang von Jenufa und Laca (Stuart Skelton) zeigen überwältigenden Klangfarbenreichtum. Evelyn Herlitzius gewinnt dem Mordplan-Monolog der Küsterin im zweiten Akt eine starke Ausdruckstiefe zwischen Angst und totaler Panik ab. Schon zuvor haben die unbegleiteten Geigen die vier letzten, fortissimo betonten Noten aufgegriffen und zu einer wirbelnden Figur geformt. „Laca, wirklich und wahrhaftig!“ ist hier der erschütternde Aufschrei der Küsterin, die sich unrettbar in ihre Schuld verstrickt. Evelyn Herlitzius gelingt ein eindrucksvolles Charakterporträt. Der große C-Dur-Höhepunkt gegen Ende der Oper fesselt den Zuschauer dabei ungemein. Harfenarpeggien unterstreichen hier auch Jenufas Vergebung. C-Dur ertönt dabei strahlend bei Jenufas Worten „Der Erlöser blickt auch auf sie“ – sie verzeiht ihrer Ziehmutter.
Bei der Inszenierung liegt der Schwerpunkt der Handlung eindeutig auf der komplizierten Beziehung von Jenufa zur Küsterin, wobei hier eine erhebliche dynamische Steigerung zu beobachten ist. In weiteren Rollen fesseln Hanna Schwarz als alte Buryjovka, Ladislav Elgr als emotionaler Steva und Jan Martinik als Altgesell. Aytaj Shikhalizada (Schäferin), Adriane Queiroz (Barena), Victoria Randem (Jano) und Anna Kissjudit (Base) fügen sich ebenfalls nahtlos ins Ensemble ein. Der Staatsopernchor Berlin ist im Zuschauerraum verteilt und sorgt für wuchtige akustische Höhenflüge. Zuweilen glättet Simon Rattle mit dem Orchester die überaus eigenwillige Rhythmik Janaceks und sorgt so für einen weniger kantigen harmonischen Überbau. Im ersten Akt scheint das gespannte Verhältnis von Jenufa und Laca geradezu zu explodieren, im zweiten Akt willigt Jenufa ein, den reumütigen Laca zu heiraten und im dritten Akt beginnen sie einander zu verstehen. Jenufas Ausruf „Laca, meine Seele!“ ist hier der Signalton für eine positive Wendung. Der Orgelton auf C sinkt plötzlich zum B herab. Simon Rattle verliert dabei die konsequenten strukturellen Prozesse nie aus dem Blick. Und doch blüht bei der Wiedergabe der leidenschaftliche Überschwang der Partitur strahlend auf.
Alexander Walther