Polina Semionova. Copyright: Yan Revazov
Berlin/ Staatsballett: „GISELLE“ mit Polina Semionova, 16.03.2018
Vor rund zwei Jahren war Berlins Tanzstar – Polina Semionova – bereits als Gast in „Giselle“ zu bewundern, doch was sie jetzt aus dieser Rolle tänzerisch und darstellerisch herausholt, ist sensationell.
Das Publikum hat’s geahnt. Kaum betritt sie die Bühne, ist ihr der Applaus sicher. Schon kürzlich in Don Quijote war sie ganz wunderbar. Die Babypause, die die international Gefragte vor gut drei Jahren aus eigenem Entschluss eingelegt hatte, ist ihr nicht mehr anzumerken. An Ausstrahlung hat sie noch gewonnen, und jetzt als Giselle, in dieser sehr anspruchsvollen Rolle, steigert sie sich noch weiter. Das ist Spitzentanz in der Weltspitze.
Polina Semionova als Bauernmädchen. Copyright: Yan Revazov
Sie schwebt förmlich über die Bühne, die schwierigste Beinarbeit gelingt, als wäre es die leichteste aller Übungen. Kein Wackler, nirgends. Diese unaufdringliche Perfektion erlaubt es ihr, alle Gefühle dieser Giselle deutlich und berührend zu zeigen, vom Minenspiel bis in die Zehenspitzen. Der Choreographie und Inszenierung von Patrice Bart aus dem Jahr 2000 haucht sie damit neues Leben ein.
Zuerst gibt sie das tanzbesessene, aber gesundheitlich labile Bauernmädchen, das die besorgte Mutter (Xenia West) vergeblich zur Vorsicht ermahnt. Doch wie sonst soll das hübsche Girl all’ ihre plötzlichen Gefühle für Albrecht ausdrücken? Der, ein Prinz, ist ihretwegen incognito in die Hütte gegenüber eingezogen. (Bühne und Kostüme: Peter Farmer).
Mit dem jungen Brasilianer Denis Vieira hat Polina diesmal einen großartigen Partner, einen jungen temperamentvollen Tänzer mit knackiger Figur und knisternen Gefühlen. Der äußert seine Leidenschaft zunächst recht offensiv gegenüber dem schüchternen Mädchen, das ihm immer wieder kokett entwischt. Doch schnell hat sie sich in ihn verliebt, und aus dem Draufgänger wird ein zärtlich Liebender, was ihm auch im Gesicht abzulesen ist.
Beim dörflichen Fest mit dem Corps de Ballet – musikalisch aufgemischt von der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Marius Stravinsky, gefallen beim Bauerntanz auch Iana Balova und Alexander Shpak. Doch zweifellos wird Polina als Giselle die Tanzkönigin und wirbelt ihre Gefühle so sehr aus sich heraus, dass sie fast ohnmächtig wird. Erschreckt kümmert sich Albrecht um sie.
Auch die Rolle des eifersüchtigen Wildhüters ist neu und mit dem drahtigen Nikolay Korypaev sehr passend besetzt. Der hat schon lange vergeblich ein Auge auf sie geworfen, was nur zu verständlich ist. Der entlarvt den Prinzen Albrecht anhand des Wappens auf dem Degen, doch das nützt ihm wenig. Der Wendepunkt kommt bekanntlich, als Albrechts aufgetakelte Verlobte samt Vater und Entourage erscheint. Für Albrecht eine ungemütliche Situation, für Giselle jedoch ein Schock, der ihr den Verstand nimmt. Mit wirr flackernden Augen und wankenden Schritten tanzt sich diese Polina-Giselle in den Tod.
Die Willis. Copyright: Yan Revazov
Im Reich der Wilis – der Frauen, die vor der Hochzeit gestorben sind – kann und muss Giselle nun jede Nacht tanzen, befehligt von ihrer hoheitsvollen Königin Myrtha. Sarah Mestrovic tanzt nach anfänglichen Wacklern diese Rolle mit Schwung und guten Sprüngen, aber ohne die zu erwartende Bösartigkeit.
Während das Corps de ballet in weißen Gewändern über die Bühne wogt, müssen die Solisten für neue Spannung sorgen. Nikolay Korypaev, der als von Reue Gequälter zur Nachtzeit Giselles Grab aufsucht, überzeugt in seiner Trauer und auch als ein von den Wilis zu Tode Gehetzter.
Doch nun gehört der Abend Polina Semionova und Denis Vieira. Wie beide (!) mit großen Sprüngen ihrem Schicksal zu enteilen versuchen, wie sie ihre unendliche Liebe in fabelhaften Pas de Deux und immer neuen kunstvollen Figurationen beweisen, das geht zu Herzen. Er hebt sie empor, als wolle er sie ins Leben zurücktragen. Sie schützt das seine, so dass ihm Myrtha nichts anhaben kann.
Welche Kraft und Konzentration all’ das erfordert, ist dem Traumpaar dieses Abends nicht anzumerken. Polina steigert sich auch mental voll in die Rolle und hat zuletzt Tränen in ihren großen dunklen Augen. Mit „standing ovations“ wird sie zusammen mit ihrem Partner für diese Ausnahmeleistung belohnt.
Ursula Wiegand