Berlin/ Staatsballett Berlin: „DORNRÖSCHEN“, die lang erwartete Premiere in der Deutschen Oper am 13.5.2022
Staatsballett: Dornroeschen mit Polina Semionova als Prinzessin Aurora. Foto: Yan Revazov
Ein „Dornröschen“ im Spielplan zu haben, ist für jedes „bessere Haus“ Wunsch und Selbstverständlichkeit zugleich. Doch die Tanzstadt Berlin hat Pandemie bedingt lange auf dieses bereits geplante neue „Dornröschen“ warten müssen. Am Freitag, dem 13. Mai 2022, ist es endlich soweit, und niemand scheint abergläubig dieses Datum gescheut zu haben, sondern es eher als positives Omen zu deuten. Berlins größtes Opernhaus, die moderne Deutsche Oper, ist jedenfalls rappelvoll.
Etwa 3 ½ Stunden inklusive einer Pause dauert dieser Dreiakter plus Prolog mit seinem Libretto nach Charles Perraults „Le Belle au bois dormant“ und der herrlichen Musik von Peter I. Tschaikowsky, die das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der gelegentlich etwas robusten Leitung von Ido Arad – darbietet.
Nach dem allerletzten Takt tobt dann der Schlussbeifall, und eine kleine Frau wird mit „standing ovations“ gefeiert: die jetzt 85-jährige, einstige Star-Ballerina Marcia Haydée, hier verantwortlich für Choreographie und Inszenierung. Denn sie hat etwas gewagt, was niemandem vorher in den Sinn kam: Die böse Fee Carabosse schreitet nun in Berlin nicht mehr drohend und steif umher. Nein, sie tanzt, aber wie, und mit welchem Furor!
Staatsballett: Dornroeschen mit Dinu Tamazlacaru als Carabosse.Foto: Yan Revazov.
Das ist eine weltweite Premiere, die der Ausnahmetänzer Dinu Tamazlacaru gestaltet, der stets auch als Charakterdarsteller überzeugt. Als Principal Guest (genau wie Polina Semionova) kehrt er mit dieser Rolle ans Staatsballett Berlin zurück, und einen Besseren hätte man/frau dafür kaum finden können.
Schon bei der Eingangsmusik schleicht er, gehüllt in einen wehenden roten Mantel überm nachtschwarzen Kostüm, der auch die Plakate prägt, vor dem noch geschlossenen Vorhang über die Bühne, um dann das Königspaar, das gerade die Geburt seiner Tochter feiert, mit all’ den Gästen und dem ganzen Hofstaat in Angst und Schrecken zu versetzen.
Diese Carabosse, die sich für ihre Nichteinladung und Hintansetzung rächen will, saust, springt und rollt in unglaublichem Tempo – mal mit einem roten, mal mit einem schwarzen langen Tuch hantierend – übers Parkett, ohne sich zunächst in der Stofffülle zu verheddern. Das wird zur androgynen artistischen Protestnummer sondergleichen, ist somit auch ungemein modern und – wie die zur Verfügung gestellten Profi-Bilder zeigen – in dieser Geschwindigkeit nicht fotografierbar.
Dank dieser Idee der einst weltberühmten Tänzerin müsste das Ballett nun eigentlich „Carabosse“ anstatt „Dornröschen“ heißen, denn das Böse ist oft – wir erleben es gerade – auf ungemein schnellen Füßen unterwegs und droht hier dem unschuldigem, gerade geborenen Königskind den Tod mit 16 Jahren an. Nur die Fliederfee, schön getanzt von Elisa Carrillo Cabrera, kann und will das Schlimmste verhindern.
Durch diese Carabosse, eine dunkle teuflische All-round-Figur, erhält auch die ungemein verschwenderische Bühnenausstattung mit all’ den historisch inspirierten Kostümen – ob beabsichtigt oder nicht –ein deutliches Gegengewicht. Das gilt auch für die schicken Kleider der Damen, die wir alle sehr gerne sehen. (Bühne und Kostüme Jordi Roig). Das Ganze sieht toll aus, scheint auch sehr zu gefallen. Doch diese keineswegs kitschfreie Märchenkulisse erweist sich eigentlich schon im Folgenden als Auslaufmodell.
Zunächst wird jedoch die schon erwähnte Kindesgeburt und das glückliche Ehepaar nach Petipa-Ballett-Tradition mit zahlreichen Tanznummern gefeiert. Das Ensemble kann auf diese Weise zeigen, was es gelernt und nach der Pandemie wieder sehr gut eingeübt hat. Sechs Feen mitsamt ihren Partnern erscheinen, Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin dienen als deren Pagen. Blumenkinder und Tierrollen sind wohl auch unvermeidbar. Doch dieser Menschen- und Nummerwirbel scheint dem Publikum sehr zu gefallen, werden doch zahlreiche Verführungen sogleich mit Zwischenbefall belohnt.
Staatsballett: Dornroeschen mit Polina Semionova als Prinzessin Aurora und Alexandre Cagnat als Prinz Desire: Foto-Yan Revazov
Aber wohl alle warten auf Berlins Darling, die Startänzerin Polina Semionova als die dann 16jährige Prinzessin Aurora. Mit Können und Charme schlüpft sie in diese Partie, tanzt mit ihren langen Beinen Pirouetten en masse. Drei Herren werben bereits artig um ihre Gunst, um sie heiraten zu können und bieten ihr zugleich eine unauffällig stützende Hand bei dem damit verbundenen Balanceakt.
Einer hat sich besonders in sie verliebt, der Prinz Desiré, der von dem Franzosen Alexandre Cagnat überzeugend getanzt wird. Der ist erst seit 2020 Mitglied beim Staatsballett, ist noch ein Semi-Solotänzer. Schon im Vorjahr ist er jedoch positiv aufgefallen, jetzt erhält er seine große Chance und nutzt sie.
Für seine zahlreichen weiten Sprünge, die das Publikum von klassischen Tänzern immer erwartet, erhält er besonderen Beifall. Auch überzeugt er in der Traumszene, in der ihm das eingeschläferte Dornröschen inmitten des ebenfalls schlafenden Hofstaats als umher huschende Traumfigur begegnet. Da die Fliederfee erneut Carabosse abwehrt, wagt der Prinz se zu küssen. Seine Liebe erlöst sie und ebenso ihre königlichen Eltern sowie den gesamten personenreichen Hofstaat.
Der Hochzeit steht nun nichts mehr im Wege, aber selbst die beiden Liebenden müssen sich noch tänzerisch im üblichen Muster beweisen. Erst tanzen beide zusammen, dann ist der Prinz mit einem Solo an der Reihe, das er mit weiten Grands jetés anreichert und entsprechenden Beifall dafür erhält.
Danach muss Prinzessin Aurora ihr tänzerisches Können herzeigen. Die groß gewachsene Polina tut es mit gewohnter Grazie. Beim schließlichen „Get-together“ ist es wiederum Alexandre Cagnat, der sich erneut als aufmerksamer und zuverlässiger Partner erweist, so an der Stelle, als sich Polina mit weit ausgestrecktem rechten Bein vornüber beugt und mit den Händen fast den Boden berührt. Das ist ein wahrer Kraft- und Balanceakt, und ein Miteinander ist bei solchen „Kunststücken“ durchaus nötig. Das Publikum feiert das Gelingen mit Klatschsalven.
Als Hochzeitsgeschenk werden das Brautpaar und das Publikum mit einer erneuten Serie von diversen Tänzen beglückt. Polonaise, Mazurka sowie Rotkäppchen und der böse Wolf fehlen auch nicht. Eigentlich alles wie früher. Die Berichterstatterin guckt allmählich auf die Uhr und weiß, dass die Fliederfee nun das junge Paar beschützen muss. Denn Carabosse steht schon beobachtend an der Seite und will sicherlich diese Liebesehe stören oder zerstören.
Doch schließlich ist es der „böse“ Dinu Tamazlacaru, der beim riesigen Schlussbeifall die zierliche Marcia Haydée sorgsam an der Hand hält.
Ursula Wiegand
WeitereTermine:
In gleicher Besetzung der vier Hauptrollen wird am 10. und 24. Juni getanzt.
Am 18. , 19.5. und 28.5. sind es: Iana Salenko als Prinzessin Aurora, Daniil Simkin als Prinz Desiré, Arshak Ghalumyan als Carabosse und Aurora Dickie als Fliederfee.
Am 3. und 6. Juni tanzen : Ksenia Ovsyanick als Prinzessin Aurora, Dinu Tamazlacaru nun als Prinz Desiré, Alexei Orlenco als Carabosse und Krasina Pavlova als Fliederfee. (Angaben vom Staatsballett Berlin)