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BERLIN / St. Elisabeth Kirche THE TOWER OF BABEL – das Klangforum Wien BERLIN / St. Elisabeth Kirche THE TOWER OF BABEL – das Klangforum Wien spielt zeitgenössische Werke von Komponisten und Komponistinnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion

04.11.2024 | Konzert/Liederabende

BERLIN / St. Elisabeth Kirche THE TOWER OF BABEL – das Klangforum Wien spielt zeitgenössische Werke von Komponisten und Komponistinnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion; 3.11.2024

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Foto: Dr. Ingobert Waltenberger

Als Teil des VOICES Performing Arts Festival setzt das Klangforum Wien das 2023 begonnene Projekt, das aktuellen Werken aus der ehemaligen Sowjetunion gewidmet ist, u.a. mit einem dreiteiligen Konzertabend und „neuen Entdeckungen“ fort. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Zentralasien. O-Ton: „Diese Ausgabe des Programms kartografiert die neuen musikalischen Landschaften der heutigen postsowjetischen Gesellschaften und beleuchtet mit klarer Direktheit künstlerisch kompromisslose Stimmen aus Aserbaidschan, Tadschikistan, Usbekistan, Litauen, Russland, Weißrussland und der Ukraine. Wie ein „Turm zu Babel“ soll sich das Projekt über eine kulturelle Landschaft erheben, die gegenwärtig unter immensen Entbehrungen leidet: strahlend vor Vielstimmigkeit, utopisch wie immer, als Zufluchtsort und Aussichtspunkt zugleich.“

Als Teil des Publikums und musikalischer Mensch muss ich vorbemerken, dass ich die teils apokalyptisch grundierten Klangvisionen nur mit meinem eigenen Erfahrungshorizont druchleben/nachvollziehen und mit meinen Worten beschreiben kann. Dabei ist es unmöglich, mich mit Situationen zu identifizieren, die mit politischer Verfolgung oder Krieg zu tun haben, weil sie außerhalb meiner Biografie liegen. Absolute Musik als universell abstrakte Sprache entzieht sich meiner Meinung nach ohnedies jeder politischen Dimension, da Klänge (und ich meine hier ausdrücklich keine Geräuschcollagen) durch sich selbst den Zugang zu den Herzen und Emotionen des Publikums finden können müssen.

Vor diesem Hintergrund habe ich mit offenem Ohr zuerst einmal Justė Janulytės „Clessidra“ gelauscht. Es handelte sich um eine meditative, ruhig und stetig mäandernde Musik in der Nachfolge Arvo Pärts, die einem langen Crescendo ein kürzeres decrescendo gegenüberstellt. Leise schoben sich tektonische Klangschichten und deren Modulationen nach der Art von Minimal Music voran. Die Musik wölbte und räkelte sich, stieg und fiel wie eine lebende Skulptur. Die Harfe wurde nicht gezupft, sondern mit einem Stoffband gestrichen. Generell fiel auf, dass die vielseitige Verwendung von und Klanggenerierung aus herkömmlichen Instrumenten mit ungewöhnlichen Mitteln ein hohes Maß an originärer Phantasie entfachen konnte.

Die Russin Anna Romashkova hat mit „just shine a little violin“ ein Solo für Geige geschrieben, das von Sophie Schafleitner virtuos umgesetzt wurde. Angerissene Themen, fragmentarisch, aufgeraut, kantig. Ungeduld und Wut schienen sich zunehmend in das „Spiel“ zu fräsen und sich zu einer Kakophonie an schrill brutalen Dissonanzen zu steigern, bevor das Stück ppp aushauchte.

Am besten an dem Abend gefiel mir an dem Abend „Wow and Flutter“ für zwei Posaunen und Ensemble der Weissrussin Oxana Omelchuk. Das ca. 25 Minuten lange Werk erging sich in motorisch humorvollem Konzertieren zwischen Posaunen und Kammerorchester. Es geizte nicht mit aleatorisch-jazzigen Einwürfen und Swingrhythmen, paraphrasierte Wagner und amerikanischen Big Band Sound. Da fiepten die Posaunen, ein streunender Odysseus schien beim Anblick von Circe Süßholz zu raspeln, die Segel zu einer vielleicht rissigen Zukunft gebläht. Trommeln, Stampfen, Anpreisen: Originell und überzeugend in der Vielfalt an Emotionen und Lebenswitz. Ironie dufte auch nicht fehlen. Die Posaunisten Mikael Rudolfsson und Sebastiaan Kemner, haben sich den Applaus in der nicht ausverkauften Kirche redlich verdient.  

Nach der Paneldiskussion „Goodbye, postsocialism“? New Music from Eastern Europe and Beyond startete der zweite Teil des Abends mit „Betwixt & Between or rivière assoiffée — BABORA“ des tadschikischen Komponisten Farangis Nurulla. In diesem spannenden Stück, das Assoziationen an Filmmusik mit Suspense weckte, standen Kontrabass (Evan Hulbert) und (gestopfte) Posaune solistisch einem kleinen Ensemble Rede und Widerrede. Lautmalerische Effekte sondern Zahl, Glissandi & Co offenbarten kein Geheimnis, aber schienen sich in und um sich in diffuser Angst, Bedrohung zu drehen, Futzeln an Erinnerungsmelodien und kollektives Flüstern aus einer imaginären Herzkammer inkludiert.

Dagegen begann „…soft glass…“ des Ukrainers Maxim Kolomiiets mit zwei Klarinetten, Triangel, Xylophon und Streichern mit feenhaft zerbrechlichen Klangbildern, durchsetzt mit Eruptionen, verzerrter Folkore. „Was blieb von uns übrig?“, kam mir als Metapher in den Sinn. Mit The Tower of Babel bemüht sich das Klangforum Wien, den gegenseitigen Austausch von avantgardistischen Köpfen bestimmter Regionen aufrecht zu erhalten, dort, wo Dialoge zum Erliegen gekommen sind und die Einigung zu betonen, das Freie in der Musik von niemandem und nichts beschneiden zu lassen. „Da Musik aus Sicht der wieder einmal Gefahr läuft, auf nationale Selbstbehauptung und zum Propagandaschild vermeintlicher Überlegenheit reduziert zu werden“, will man nicht tatenlos zusehen.

In der Tat sind Kreativität und Erfindungsgeist verblüffend und von meinem Begleiter mit Neugier aufgenommen worden.

Bis zu Vladimir Gorlinskys „Sun.Disc.Minotaurus“. Hier handelte es sich um eine schmerzhafte Kakophonie, Horror-Kopfhörspiele mit Quietschen und Peitschenhieben jenseits des Limits des Erträglichen. Ich war nicht der Einzige, der bei dieser fast 15-minütigen Performance die Ohren zuhalten musste. Mir war überhaupt nicht klar, was damit außer Höllenlärm gemeint sein sollte. Ich denke, dass man mit solch drastischen „klanglichen“ Mitteln kaum jemanden erreicht und damit auch den aufklärerischen Sinn des Projekts in Frage stellt. Nämlich in aller Abstraktion Empathie für existenziell schwierige bis bedrohliche Lebenssituationen zu schöpfen, für die ein konstruktiver Klangdiskurs verständnisbegründend wäre, abseits aller Worte im solidarischen und ev. kathartischen Miteinander des kollektiven Konzerterlebnisses.  An dieser Stelle war der Abend für mich zu Ende. Nur Negatives und Endzeitliches bis an die Schmerzgrenze zu produzieren ist selbstverständlich von der Freiheit der Kunst gedeckt, aber nicht mit meiner Freiheit kompatibel, Toxisches aus meinem Leben rauszuhalten.

Beim dritten Teil mit Turkar Gasimzadas „Qurama“, Jakhongir Shukurovs „Potter´s wheel contrabass solo“ sowie Vladimir Tarnopolskis „Focault´s Pendulum“ musste ich daher wegen akustischer Überforderung und beginnender Kopfschmerzen passen.

Dirigent Vimbayi Kaziboni mit seinen unglaublich geschmeidigen Bewegungen und dem Klangforum Wien gehören hingegen meine volle Bewunderung. Mit welchem Engagement und musikalischem bungee jumping sie sich in die Werke werfen, wie souverän sie die schwierigen Partituren umsetzen und mit Leben erfüllen, ist sagenhaft.

Grundsätzliches zum VOICES Performing Arts Festival: Das diesjährige Programm konzentriert sich auf die jüngsten Migrationswellen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und stellt dem Publikum bemerkenswerte künstlerische Strömungen und Stimmen aufstrebender Künstler und Künstlerinnen vor. Vom 2. bis zum 29. November zeigt VOICES 2024 an verschiedenen Orten in Berlin ein vielfältiges Angebot an neuen Musik-, Tanz- und Theaterproduktionen, die sich mit der Komplexität kultureller und politischer Umbrüche ebenso auseinandersetzen wie mit den Möglichkeiten und Auswirkungen moderner Technologien. Dabei entwickelt sich die Perspektive des “Anderen” zu einer universellen Metapher – eine Linse, durch die wir die Welt um uns herum besser verstehen können.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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