BERLIN / Schillertheater WUNDERKAMMER – Das Staatsballett Berlin in acht Szenen, choreografiert von MARCOS MORAU; 16.11.2025

Foto: Yan Revazov
„Da es keine absolute Richtigkeit und Wahrheit gibt, streben wir immer die künstliche, führende, eben menschliche Wahrheit an. Wir werten und machen eine Wahrheit, die andere ausschließt. Die Kunst ist ein bildender Teil dieser Wahrheitsfindung.“ Gerhard Richter
Ein Zitat des berühmtesten bildenden Künstlers der Jetztzeit als atmosphärischer Wegweiser zu meinen persönlichen Wahrnehmungen eines Ballettabends namens „Wunderkammer.“ Eine „Welt des Schönen, Kuriosen und Wunderbaren“ verspicht das Kunsthistorische Museum Wien auf seiner Website über den Mikrokosmos „Kunstkammer“, eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen ihrer Art. „Die Mitglieder der Familie Habsburg sammelten zahlreiche faszinierende Objekte aus Gold, Silber, Elfenbein und anderen seltenen Materialien, wie edlen Steinen, Straußeneiern, Korallen oder Haifischzähnen – rund 2.200 davon sind heute in der Kunstkammer zu bestaunen.“
Von ebendieser Sammlung in meinen Vorstellungswelten nachhaltig geprägt, faszinierte mich besonders der Tischaufsatz „Automat in Form eines Schiffes“, der sich selbstständig bewegt, die Besatzung tanzen lässt und Minikanonen eine Rauchsalve abzutrotzen vermag.
Choreograf Marcos Morau sieht Parallelen dieser Wunderkammern zum Theater, selbst ein Ort des Staunens und Hinterfragens. Seiner Inszenierung in acht Szenen (Vorspiel eines gebrochenen Akkordeons, Hey Sir, Das Heiligtum/Der Zufluchtsort, Das Artefakt, Die Farce, Die Maracas, Vor dem Nichts, Das große Finale) attestiert Morau eine Öffnung hin zu widersprüchlichen Gedanken.
Ich erlebte den Abend als eine Auseinandersetzung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, wobei das Kollektiv der bestimmende gesellschaftlich utopische Faktor dem Individuum nur bedingt Freiräume und Eigenleben lässt. Unsere Welt? Unsere Welt der Jungen, die sich im Spiegel des Publikums selbst zur Probe stellt und es als Alter Ego, als Projektions- und Angriffsfläche für Ängste und Dunkelheit begreift? „Wer sind wir?“ Wer seid Ihr?“ scheinen die unlösbaren und allerschwierigsten existenziellen Fragen, die sich aus der Teilanordnung des Spielorts auf dem abgedeckten Orchestergraben mit Direktadressat Publikumskollektiv aus nächster Nähe logischerweise ergibt. Die Geschichte einer ständigen Entfremdung?
Der Bewegungskanon dieser Séance aus dem Diesseits, von einer Art Außerirdischer im Mondlicht realisiert, zeigt sich starr-eckig-grotesk, pantomimisch bizarr, puppenhaft automatisiert als zeremonielles Ritual der Selbstbeschwörung. Schon vor vierzig Jahren hat in Wien das Serapionstheater mit dieser Art von Bewegungsästhetik, wenngleich sinnlich raffinierter, experimentiert.
Nun allerorts Freaks optisch aus dem Geschichtsbuch der Mode mit stirngelocktem Bubikopf aus dem Berlin der 20-er Jahre, dekadent stummfilmerprobt bis zur Neige, bis zu den ausladenden Toupagen der 70-er.
Die diffusen Befindlichkeiten nachgehenden Songtexte von Katja Wiegand, Ben Meerwein und Marcos Morau sowie die Tapes von Clara Aguilar und Ben Meerwein sollen die „Sehnsucht nach Zugehörigkeit und das Bedürfnis die eigene Identität in einer immer komplexer werdenden Welt zu definieren“, ausdrücken. Dazu wiederholen sich geblockte Tanzmuster an Expressivität, an widerstreitender Emotion, an ewiger Suche wieder und wieder, in kleinen Metamorphosen – von makaber bis okkult notifiziert – soft gewandelt wie die repetitiven Patterns der Minimal Music.

Foto: Yan Revazov
Da macht es wenig Unterschied, ob die engagierten Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts Berlin riverdanceverdächtig rhythmisiert stampfen, wogende Körperskulpturen formen, sich an der Stange selbst persiflieren oder die partielle Sinnenleere der Existenz mit Aktion füllen wollen („We imagine rest, but we run instead“). Das sich wunderkammerdefinitiv am „Fremden“, an der „Schönheit der Abweichung“ Staunen machen und imaginativ anreichern, die am Kanon der Kunst in humane Gemeinschaftlichkeit verzauberte Schöpfung will sich für mich erst spät im „Großen Finale“ einstellen.
Da konkretisieren sich aus abstrakten Gesten heraus „Schreie“ des Nicht-Allein-Sein-Wollens, glaubhaft empfunden und berührend (mit)geteilte Momente der Ohnmacht („Oh darkness, you embracde us, to erase us.“) und der möglichen Wege samt Katharsis daraus in die Weiten der Nacht: „Here we are all the same. The night’s anthem is for us.“ Letzteres verbindet in einer tieferen Wahrheit Alltag und Kunst, Wollen und Wünschen, Sein und Schein. Die Gedanken und Sorgen dürfen da mal ruhig schlafen gehen.
Heftiger Applaus des altersmäßig angenehm gut durchmischten Publikums.
Dr. Ingobert Waltenberger

