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BERLIN /Radsetzerei auf dem RAW Gelände „Listen & Look“ JOHANNESPASSION – ensembleberlino vocale, capella vitalis berlin

21.11.2022 | Konzert/Liederabende

BERLIN /Radsetzerei auf dem RAW Gelände „Listen & Look“ JOHANNESPASSION – ensembleberlino vocale, capella vitalis berlin; 20.11.

Bachs Johannespassion mit Videos von Katharina Tress

Die Idee klingt ja durchaus ansprechend. Eine Aufführung von Bachs dramatischster Passionsvertonung in einer Halle auf Berlins morschem RAW-Gelände plus Videokunst. Da sind die Erwartungen hoch. Nur. Traum und Wirklichkeit sind selten best friends. Da war es noch das Geringste, dass in der schwer zu findenden Monsterhalle die Heizung nur unzureichend funktionierte und das Publikum im Vorfeld ermuntert wurde, doch Decken mitzubringen, weil mit nur 16 Grad Raumtemperatur zu rechnen sei. So war es dann auch.

Die Krux für das Unternehmen lag zuvörderst darin, dass der hallige Industriebau akustisch Musik generell, und im Besonderen für eine Aufführung von Bachs Johannespassion völlig ungeeignet ist. Und die vielleicht gut gemeinten, aber völlig banalen Kurzvideos in der Art klischeehafter Einsprengsel Berlins („Alex“, Gleise, Brücken und Springbrunnen mit ein paar starr blickenden Statisten etc.), New Yorks oder Alpen- und Waldpanoramen auf eine unebene Wand mit Längsstreben projiziert nicht nur inspiriert daherkamen, sondern auch technisch mau waren. Der Versuch, eine heutige Entsprechung zu finden, welche Motive der Texte aufgreift und dabei genug Platz für die Musik lässt, ist wahrlich gescheitert. Was hat etwa die Sopranarie „Zerfließe mein Herz“ mit 0-8-15- Bildern von nächtlich erleuchteten Wolkenkratzern zu tun?

Der Kammerchor ensembleberlino vocale agierte klangschön, gut ausbalanciert in den Stimmgruppen und mit lupenreiner Intonation. Das kam vor allem den bekannten Kirchenliedern nachempfundenen Chorälen als Stimme der Gemeinde zugute. Hier wurde stimmungsvoll und atmosphärisch dicht musiziert. Den großen Chören („Herr, unser Herrscher“, „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“ und vor allem den dramatischen Chor-Einwürfen hingegen mangelte es an Textverständlichkeit (Konsonanten!), rhythmisch bissiger Artikulation und gemessen am Raum auch an Volumen. Nicht nur Nikolaus Harnoncourt hat vorgeführt, wie aufregend diese Musik im Hinblick auf drastische Klangrede und polyphone Transparenz gestaltet werden kann.

Zumal ja einige der Solisten des Konzerts der absoluten Spitzenklasse in Sachen Alter Musik zuzurechnen sind. Als da wären der edeltimbrierte Tenor Stephan Gähler als elegant phrasierender, strahlender, stilistisch vorbildlicher Evangelist. Gähler verbindet eine ideale Textausdeutung mit hoher Klangschönheit und perfekter Projektion. Wo die Partitur dies verlangt, freut sich der Hörer über gestochen klare Verzierungen und dramatischen Zugriff. Auf ebendem Niveau boten auch Simon Robinson als Jesus und Manuel Nickert als Pilatus Leistungen ohne Fehl und Tadel. Mathias Monrad Moller ließ in den Tenorarien heldischere Farben einfließen, während Tobias Hagge allzu sehr auf die pure Schönheit seines balsamischen Basses vertraute. Die Sopranistin Angela Postweiler lag bisweilen unangenehm im Clinch mit der Intonation. Die für Verena Usemann kurzfristig eingesprungene junge Mezzosopranistin Laura Murphy präsentierte vorsichtig ihre interessant timbrierte Stimme. Ihren besten Tag hatte sie wahrscheinlich nicht.

Die der historischen Aufführungspraxis verpflichtete, 2002 gegründete capella vitalis berlin hatte ebenfalls mit den ungünstigen akustischen Bedingungen zu kämpfen. So war im Vorspiel zum Chor „Herr, unser Herrscher“ das Holz präsenter als die anämisch klingenden Streicher. Während das Continuo eloquent und auf den Punkt genau mit den Stimmen interagierte, blieb insgesamt von der angestrebten Durchsichtigkeit im Orchester wenig übrig.

Fazit: Mehr „listen“ als „look“. Vor allem einige Solisten liefen zu Höchstform auf, während Chor und Orchester sich mit dem Raum als wenig kompatibel erwiesen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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