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BERLIN/ Radialsystem: „SILENT CONFRONTATION“ – Tanzperformance von laborgras, poetischer Start ins neue Jahr

02.01.2017 | Ballett/Performance

Berlin/ Radialsystem: „SILENT CONFRONTATION“ – Tanzperformance von laborgras, poetischer Start ins neue Jahr, 01.01.2017

Zeitgenössischer Tanz ist beim Ensemble „laborgras“ anders als erwartet, jedenfalls an diesem Neujahrsabend im Radialsystem. Nicht überrumpelnd und ausdrucksmächtig, nicht brutal und auch nicht bis ins Artistische reichend, wie öfter zu erleben. Das international renommierte Kollektiv – gegründet 1994 von Renate Graziadei und Arthur Stäldi – setzt bei „Silent Confrontation“ mehr auf Poesie als auf eine noch so stille Konfrontation. Ein Gegenüber ist es, dargeboten mit fließenden, ruhigen und eher alltäglichen Bewegungen.

Silent Confrontation, tableau vivant zu Flucht aus Ägypten, Foto Pil Dera
laborgras, Silent Confrontation. tableau vivant zu Flucht aus Ägypten. Copyright: Phil Dera_Presse

 Wenn das Publikum in den bald voll besetzten Saal strömt, haben sich schon 5 Figuren auf der Bühne zusammengefunden, verharren zunächst fast leblos wie eine Skulptur vor dem großen Hintergrundbild „Rast auf der Flucht nach Ägypten“ von Cornelis Massys. Sehr langsam bewegen sie sich weiter und wechseln schließlich zur anderen Bühnenseite.

Ein Tänzer und vier Tänzerinnen bilden diese „tableaux vivants“, lebendige Bilder, eine Nachstellung von Gemälden und Plastiken durch Personen, die im 18. Jahrhundert zur Mode wurde.

Hier wird sie zur Visualisierung von Renaissance-Bildern verwendet bzw. zur Einführung in die Choreographie von Renate Graziadei in Zusammenarbeit mit Maria Giulia Serantoni, Lena Meierkord, Rosalind Masson und Cesare Benedetti.

Laut Programm fragt sich das Kollektiv laborgras: „Was verbirgt sich hinter der Szenerie eines Renaissance-Gemäldes? Was steckt hinter dem Hörbaren einer Komposition aus dem 15. Jahrhundert?“ Erforscht werden, so heißt es, gemalte und musikalische Kompositionen der Renaissancezeit.

„Die Tänzer verkörpern unterschiedliche Szenarien, begeben sich in diese hinein und loten deren innere Spannungen aus. Unbewegte Gemälde werden zu dynamischen Ereignissen, der emotionale Gehalt musikalischer Kompositionen wird körperlich erfahrbar. Die Choreographie übersetzt die starren Kunstwerke in die heutige Zeit, in eine fühlbare, unmittelbare Präsenz und macht das Unbewusste der Werke für das Publikum zugänglich.“

Laborgras, Silent Confrontation, Nachstellung Maria der Verkündigung (c) Phil Dera_Presse
laborgras, Silent Confrontation, Nachstellung Maria der Verkündigung (c) Phil Dera_Presse

Wird diese Verheißung erfüllt? Wie man’s nimmt. Die im Gang hängenden (und publizierten) Fotos zeigen berühmte Gemälde, die von den Tänzerinnen und Tänzern vorab nachgestellt und von Phil Dera fotografiert wurden, wie die „Maria der Verkündigung“ von Antonello da Messina oder Caravaggios „Grablegung Christi“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die aber wecken falsche Erwartungen. Die Diskrepanz zwischen diesen Bildern und der in Alltagskleidung agierenden Interpreten (Kostüme: Arianna Fantin) verblüfft doch sehr.

Der (einzige) Mann mit nacktem Oberkörper, womöglich der biblische Josef, löst sich aus der Gruppe, tanzt mit ausgreifenden Schritten und Armbewegungen ein geschmeidiges Solo, das – zusammen mit der superschlanken Renate Graziadei – in einen Pas de deux mündet. Bald bewegen sich alle fünf grazil und auch mal mit leichten Sprüngen übers Parkett.

Silent Confrontation, Szene vor dem Genter Altar, Foto Phil Dera
laborgras, Silent ConfrontationSzene vor dem Genter Altar. Copyright: Phil Dera_Presse

 Doch welche Tänzerin vielleicht die Maria verkörpert, ist kaum auszumachen. Soll es wohl auch nicht sein. Und ob andere Figurationen wirklich etwas mit dem Genter Altar oder der Grablegung Christi zu tun haben, bleibt ebenfalls den Betrachtern überlassen, zumal die Live-Musik von Ole Wulfer und Phoebe Killdeer (mit Cembalo, Keyboard, E-Gitarre und E-Bass) nur einen Renaissance-Teppich ausrollt, d.h. die tatsächlichen Stücke für Eigenes nutzt.

Gewiss wäre es zu simpel, von zeitgenössischem Tanz, wie ihn laborgras pflegt, Eindeutigeres zu erwarten. Die Fantasie ist gefragt, und die haben offenkundig auch die Darbietenden reichlich spielen lassen, z.B. beim einarmigen Handstand mit Überschlag.

Ansonsten präsentieren sie leichtfüßig wohl das, was sie beim Anschauen der Gemälde, wie Jan Van Eycks „Genter Altar“ (mit geschlossenen Flügeln) und Angelo Bronzinos „Allegorie der Liebe“ (auch „Venus küsst Amor“ genannt) gefühlt und ihnen entnommen haben. Was sie den Zuschauern vermitteln wollen, bleibt bei solchen Bewegungsmustern jedoch vage. Ihre wiederkehrenden Tanzbewegungen könnten auch anderes darstellen oder ausdrücken.

Es muss jedoch nicht alles bis ins Letzte aufgeklärt und visualisiert werden, und so können die Zuschauerinnen und Zuschauer angesichts von soviel Poesie die herbe Gegenwart vergessen, ins Träumen geraten und das 60-minütige Tanzgeschehen mit persönlichen Assoziationen anreichern.  Herzlicher Beifall belohnt die Interpreten und das Team. 

Ursula Wiegand

 

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