BERLIN / Radialsystem „SWEET SURROGATES“ – Umjubelte Jubiläumsaufführung zum 25-jährigen Bestehen von Nico and the Navigators; 16.12.2023
Talea Nuxoll – Produktion
„Die Seele ist vergraben und erstickt… Verfaultes leuchtet fahl auf nächt’gen Wegen…. Und wir sind müde, soll uns Kunst erregen. Bis wir im Rausch der leeren Qual entrückt.“ Aus Hugo von Hofmannsthal „Künstlerweihe“
In Wien, Paris, Prag oder Berlin sind in den letzten Jahrzehnten ganz eigene, ganzheitliche Theaterformen entstanden, die das Miteinander von Musik, Videos, Tanz, Akrobatik, Pantomime, Poesie, Literatur in Raum, Bühnenbild und Dekor neu definiert, erforscht, durchleuchtet und in eigenständigen Mischungen zelebriert haben und dies auch heute in steter Fortentwicklung noch tun. Poesie in Wort, Bild und Ton und der Mensch in all seinen existenziellen Bedingtheiten und denkmöglichen Seinsfacetten des Realen und Paradoxen dienen als programmatische Versuchs- und Suchuniversen.
Zur unverwechselbaren Marke geworden sind etwa das „Serapions-Theater“ im Wiener Odeon, gegründet 1973 von Ulrike Kaufmann und Erwin Piplits, das 1964 ins Leben gerufene „Théâtre du Soleil“ der von mir über alles bewunderten Ariane Mnouchkine, das in der Pariser „Cartoucherie“, einer alten Munitionsfabrik im Bois de Vincennes, für unvergessene Theaterabende sorgte oder die Prager „Laterna Magika“, in der aus den Elementen Film, Licht, Musik und Pantomime poetisch hinreißende Effekte destilliert werden.
1998 am Bauhaus in Dessau gegründet und schon 1999 nach Berlin übersiedelt (zuerst Sophiensäle, ab 2006 Radialsystem), gibt es Nico and the Navigators seit 25 Jahren. Dank des Kreativduos Nicola Humpel (künstlerische Leitung) und Oliver Proske (Bühne) hat sich das Ensemble einen internationalen Spitzenplatz erobern können. Sie haben so etwas wie ein faszinierendes Berliner Welttheater kreiert. Vor dem Hintergrund bewegter Bildprojektionen, die großteils live mit seitlich, vorne und über der Szene platzierten Kameras eingefangen werden, direkt oder digital verfremdet, die die Bühnenaktion verstärken bzw. multiplizieren, werden Bewegungschoreografien, Breakdance und Schauspiel zu einem höheren Ganzen verwoben.
Der Musik kommt in den bisher 38 Produktionen ein ganz besonderer Stellenwert zu, Sie wird live von einem großartigen Instrumentalensemble (Violine Elfa Run Kristinsdottir, Gitarre Tobias Weber, Schlagzeug, Synthesizer und Komposition Philipp Kullen, Klavier Matan Porat, Trompete Paul Hübner) und der Vokalartistentrias Peyee Chen (Sopran), Ted Schmitz (Tenor) und Nikolay Borchev (Bariton) realisiert und von den Ausführenden in das dramatische Geschehen integriert.
In der neuen Produktion „Sweet Surrogates“ ist der musikalische Part mit einem mitreißenden Mix aus Pop (The Beatles, Rolling Stones), Billy May, Songs (Bob Dylan, The Shivers), Oper (‚Ebben‘ aus „La Wally“ von Alfredo Catalani, Wahnmonolog des Hans Sachs aus Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“), Renaissanceklängen (Barbara Strozzi, Heinrich Ignaz Franz Biber), klassischer Moderne (Dmitri Shostakovich, Britten, Ravel, Vaughan Williams) und Minimal Music (John Adams, Philip Glass), dem endlich wieder entdeckten Klangrauschpostminimalisten Julius Eastman (‚Joy Boy‘) und Richard Strauss‘ „Morgen“ besonders würzig opulent und unser Leben spiegelnd ausgefallen.
17 Jahre jung war Hugo von Hofmannsthal, als er das Sonett „Künstlerweihe“ schrieb, dessen dritte und vierte Strophe als Navigationspunkte des Abends verstanden werden können:
Jüngst fiel mein Aug auf Meister Wolframs Buch, Vom Parzival, und vor mir stand der Fluch, Der vom verlornen Gral herniederklagt: „Unseliger, was hast du nicht gefragt?!“ In Mitleid ahnend stumme Qual befreie: Das ist die einzig wahre Künstlerweihe!
„Fin de siècle“ Stimmung, ein „Grundgefühl einer kulturellen Endzeit, das von der tiefen Erschütterung sozialer, politischer und religiöser Gewissheiten geprägt wurde, ließ den Dichter an seiner Berufung zweifeln, bis er sie in Meister Wolframs Buch vom Parzifal entdecken wollte.“ (Dramaturg Andreas Hillger).
Nico and the Navigators wünschen mit dieser Produktion, die u.a. den Rausch als zivilisatorisches Ventil und Kitt thematisiert, nach einem Vierteljahrhundert gemeinsamer Arbeit innezuhalten, ihren gegenwärtigen Standort zu bestimmen und über den künftigen Kurs nachzudenken.
Kunst als süßer Ersatz, als Einübung in die Sterblichkeit? Ich denke, das Eintauchen in künstliche Simulation, in fantastische Geschichten, die in Büchern, auf der Bühne oder Gemälden mit großer Emotion jenseits eines für viele anstrengenden bis grauen Alltags erzählt werden, vermag es, dem Menschen zu ermöglichen, eine kleine Pause vom eigenen Ich zu machen, es sozusagen auf Urlaub zu schicken. Bewegt vom ewigen Zwiespalt von Zuviel oder Zuwenig, Mangel oder Überforderung, Hunger oder Völlerei im eigentlichen oder übertragenen Sinn, erlauben es solche Abende wie ‚sweet surrogate‘, dem Geheimnis der goldenen Mitte nachzuspüren, einen Zustand der Katharsis nach Mitleiden zu erreichen, völlig entspannt, zufrieden oder positiv aufgewühlt. Hillger drückt das so aus: „Trotz und Trost, Erregung und Beruhigung liegen hier eng beieinander, das radikale Gefühl der Vereinzelung ist ebenso möglich wie das Erlebnis einer maximalen Gemeinschaft.“
Nicola Humpel hat zur Veranschaulichung des Gesagten in 22 Szenen Musik (siehe oben), Texte von Ingeborg Bachmann, Charles Baudelaire, Walter Benjamin, Hofmannsthal, E.H. Lawrence bis den Navigators sowie bunter kulturübergreifender Aktion zu einem sinnlich nachdenklich bis humorvollen Kammerspiel in ihrer spezifischen Bühnensprache montiert. „Altensemblemitglied“ der Navigators Patric Scott spannt den roten Faden des Geschehens als dauerpaffender Spielleiter, als zynischer Diabolus und geschmeidiger Verführer.
Starmime Martin Clausen hat die extremsten Szenen für sich gepachtet: Er darf in einer gruseligen Nummer Theaterblut und schwarze Bananen zu einem Brei vergatschen und sich vom Bühnenboden einverleiben, bevor er im Adamskostüm zu musizieren beginnt.
Bisweilen kuscheln sich alle Mitwirkenden wie Welpen eng aneinander, das Verlorensein der Figuren durch Nähe kompensierend. Höchst amüsant geht es zum vierten Satz vom ersten Klavierkonzert von Dmitri Shostakovich vom Leder. In einem grotesken Papierwirbelsturm werden Stapel an Notenblättern von Hand oder der Windmaschine durcheinander geblasen und nehmen so das Chaos künstlerischen Schaffens auf die Schaufel.
Auf der anderen Seite verzaubert Florian Graul mit einer hochpoetischen wie virtuos elastischen Breakdancenummer zu Barbara Strozzis „Che si poó fare“ und die Spanierien Alba de Miguel legt ein atemberaubendes Flamenco-Furioso aufs Parkett. Tenor Ted Schmitz, der besonders herzzerreissend die englischsprachigen Nummern von Britten und Williams interpretiert, darf erotisch knisternd auf einem Rollgefährt zu ‚Beauty‘ von „The Shivers“ („I live off love, I feed off love, I breathe off love, I think of love, I drink of love, I sink in love,.“) von Mann zu Frau und wieder retour schmachten. Aber auch die Musiker bekommen ihre Bühnensoli ab. So ist beispielsweise Pianist Matan Porat im Ausschnitt aus dem zweiten Satz des Klavierkonzerts in G-Dur von Maurice Ravel in Großaufnahme und mit sich drehendem Piano von oben zu bewundern.
Der Bilderreigen einer über der Bühnenmitte gespannten hochformatigen Leinwand reicht von eisig vernebelter Kälte über Regen und Wassertropfen auf Glas bis zu in halluzinogene Farben getauchte bzw. psychedelisch verschwommene Gesichter. Gegen Ende des pausenlos gespielten Stücks hellt sich die Stimmung mit dem himmlischen, das Gute in uns beschwörenden ‚Evening Song‘ aus „Satyagraha“ von Glass, Strauss‘ „Morgen“ bis zu ‚Here comes the sun‘ von den Beatles hoffnungsvoll lichtend auf.
Es ist ein großer Abend eines wichtigen und nicht nur mir besonders am Herzen liegenden Theaterensembles der Berliner freien Szenen geworden. Die Verzauberung und Überwältigung hat stattgefunden, der blitzende Funke ist wieder einmal übergesprungen.
Im Anschluss zur Jubiläumsfeier gab es nach einer Begrüßung des Programmleiters des Radialsystems, Matthias Moor, eine bewegende Laudatio des sympathischsten und authentischsten aller mir bekannten Kulturpolitiker, des Kultursenators Joe Chialo. Olaf Schmitt, seit 2016 künstlerischer Leiter der Kasseler Musiktage, hat mit seinem intellektuell schillernden Redebeitrag ebenso die künstlerischen Leistungen von Nicola Humpel, Oliver Proske & Co. gewürdigt wie die geniale Annedore Kleist in einer launigen und höchst unterhaltsamen Rede Tiefen und Untiefen des Genres rhetorisch brillant sezierte.
Fazit: Berliner Welttheater und virtuose Ensemblekunst vom Feinsten. Mögen uns „Nico and the Navigators“ weitere 25 Jahre erhalten bleiben. Der prononcierte Förderungswille der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt – Abteilung Kultur – ist auf jeden Fall da.
Dr. Ingobert Waltenberger