Berlin/Radialsystem: „RADIALE NACHT“ mit Teodor Currentzis, Patricia Kopatchinskaja und Sasha Waltz & Guests, 16.01.2016
Teodor Currentzis (c) Anton Zavyalov_Presse
Beethovens Fünfte, in den Jahren entstanden, als ihn sein schon deutlicher Hörverlust missmutig und depressiv machte, ist ein weltweiter Renner. Dem Komponisten wird bekanntlich der Satz zugeschrieben: „Nun klopft das Schicksal an die Pforte“.
Bei Teodor Currentzis in der total ausverkauften „Radialen Nacht“ im Radialsystem hämmert es in ungewohntem Tempo und ganz ohne pathetischen Gestus.
Der öfter als „Enfant Terrible“ der Klassik Titulierte – nach 6 Jahren Chefdirigat in Nowosibirsk und seit 2011 Chef des Opern- und Balletttheaters von Perm im Ural – macht eines klar: Beethoven war 38, als die Fünfte 1808 uraufgeführt wurde. Eigentlich ein noch junger, nicht selten ungestümer Mann, zumindest nach heutigen Maßstäben.
Und so bürstet Currentzis, dieser kompromisslose Superstar des Ungewöhnlichen, zusammen mit seinem superfitten Orchester MusicAeterna allen Staub von der Partitur. Die altbekannte „Schicksalssinfonie“ wirkt plötzlich taufrisch, nicht nur wegen der rasanten Tempi.
Neues Hinhören ist also gefragt, und Currentzis hilft dabei. Der hat jede Note im Blut, der verlangt mit energischen, dann wieder sanft schwingenden Gesten den Seinen unter Führung des äußerst agilen 1. Geigers, alles ab. Der legt stampfend und tänzelnd den musikalischen Inhalt bloß, ohne zum selbstverliebten Showman zu werden. Currentzis will Beethoven und den Zuhörern ans Herz.
Und das gelingt. Das anfängliche Leitmotiv im tragisch-wehrhaften c-Moll kommt knackig und zeigt so des Komponisten ungestümen Trotz. Danach Zartheit und Melodienausprägung im As-Dur-Andante, dann der grollend erneute Rückfall ins c-Moll im 3. Satz. Dass nach all’ der Tragik das letztendliche C-Dur eine unglaubliche Leistung der Selbstbefreiung Beethovens gewesen sein muss – hier wird es deutlich. Ex Oriente Lux.
Radiale Nacht mit Teodor Currentzis, MusicAeterna und Sasha Waltz & Guests, Foto Roger Rossell
„Bebildert“ wird das Sinfonie-Geschehen durch Sasha Waltz & Guests einschließlich ihrer Kindertanzcompany. Gruppen und Paare wirbeln vor dem Podium hin und her. Einige intensive Pas de deux, lebensechtes Zueinander mit vielen Küssen zeigend, sind die Highlights. Zuvor, im kleinen Studio C, hatten bereits zwei Tänzerinnen, begleitet von Iddo Bar-Shai am Klavier, die Sympathie der Zuschauer gewonnen. Hier, bei Beethovens Fünfter, bietet jedoch Currentzis die organischste und am genauesten zur Musik passende Choreografie. Danach Riesenjubel, Getrampel Gekiekse von Menschen jeden Alters!
Dass er sich auch ganz zurücknehmen kann, hat der Temperamentvolle am Anfang bei Arvo Pärts wunderbar schwebendem „Psalom“ bewiesen. Alles andere wäre auch ein Sakrileg gewesen.
Bei Mozart nach 22.00 Uhr ist dann alles wieder wie erwartet, betritt doch eine ebenfalls Unangepasste unter Beifall die Bühne: die Barfuß-Geigerin Patricia Kopatchinskaja. Auch sie strotzend vor Musikalität und dem Hang, die Aufmerksamkeit der Zuhörer durch „Anschrägen“ zu schärfen. Hier haben sich zwei Musikmacher gefunden, die in Können und Kessheit perfekt zueinander passen.
Mozarts Violinkonzert in A-Dur, KV 219, sein letztes und längstes, fertig gestellt Ende 1775, ist gleichzeitig sein anspruchsvollstes und melodienreichstes. Nach dem temperamentvollen Beginn (Allegro aperto) bringt Patricia Kopatchinskaja die hohen Passagen besonders leise, legt auch mal eine Denkpause ein, bevor sie weiterspielt, um dann bei den Sprüngen mit Bravour zu beweisen, dass sie es wirklich kann.
Ähnliche Scherze erlaubt sie sich beim Adagio, spielt mit schelmischem Lächeln absichtlich ein paar falsche Töne oder fügt einige Kringel hinzu. Leises Lachen im offenbar sachkundigen Publikum. Ein Aha-Effekt, wenn sie danach Mozarts unverfälschte Melodie fast schwärmerisch darbietet. Das erreichte Resultat ist auch hier das genaue Hinhören.
Schließlich das muntere Rondo, erstmal als elegantes Menuett, dann abdriftend in einen türkisch inspirierten Marsch, bei dem die Contrabässe und Celli zu Schlaginstrumenten mutieren. Das ist originaler Mozart und kein Einfall von Currentzis, dem man solches ebenfalls zutrauen würde.
Verständlich, dass er und seine Solistin sich genau dieses Violinkonzert (und nicht eines von Beethoven, wie im Programm stand) gewählt haben. Klar, dass danach erneut die Wogen der Begeisterung hochgehen. Das Radialsystem bleibt auch in diesem Abend ein Ort mit Anspruch.
Ursula Wiegand