Berlin/ Pierre Boulez Saal: Bachs „DIE KUNST DER FUGE“ mit András Schiff. Das packende Ende des Bach-Zyklus am 06.01.2024.
András Schiff. Foto: Nadja Sjöström
14 Fugen, jede von Johann Sebastian Bach als „Contrapunctus“ bezeichnet, und 4 zweistimmige Canons enthält sein letztes und unvollendet gebliebenes Werk, BWV 1080, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Schon Johann Nikolas Forkel, ein Bach-Bewunderer, der nach Kontakten mit Bachs Söhnen Wilhelm Friedemann und Carl Emanuel 1802 die erste Bach-Biographie verfasste, äußerte sich, deren besonderen Wert erkennend, wie folgt:
„Mit dem Werk solle anschaulich vermittelt werden, was möglicher Weise über ein Fugenthema gemacht werden könne. Die Variationen, welche sämmtlich vollständige Fugen über einerley Thema sind, werden hier Contrapuncte genannt“.
Dieser Erkenntnis schließt sich heutzutage Martin Wilkening an, dessen Erklärungen zum dargebotenen Zyklus im Programmheft zu finden sind. Er schreibt:
„Die Kunst der Fuge lässt sich als ein großes Variationswerk betrachten, da jedes der dort versammelten Stücke auf demselben Thema basiert. Dessen Gestalt wird von Fuge zu Fuge variiert, seine statuarische Urform mit Zwischennoten gefälliger gemacht und emotionalisiert, reduziert, in der Rhythmik bzw. der Phrasierung verändert oder in gespiegelter Gestalt mit der Umkehrung der Bewegungsrichtung der Intervallschritte vorgestellt.
Die unterschiedlichen Fugenformen bilden dabei einen Katalog des Möglichen. Manche von ihnen verarbeiten lediglich das Hauptthema, in anderen werden ein oder zwei Kontrastthemen zusätzlich durchgeführt (sogenannte Doppel- oder Tripelfugen). In zwei Fugen stellt die jeweils zweite Hälfte insgesamt eine Spiegelung des Tonsatzes der ersten Hälfte darstellt (Nr. 13 und 14).“
Kurz gefasst ist also Bachs „Kunst der Fuge“, kein Lehrmaterial zum Üben, jedoch eines, das die Möglichkeiten aufzeigt, was sich mit Können und Fantasie aus einem einzigen Thema machen lässt. Insofern übertrifft die „Kunst der Fuge“ das „Wohltemperierte Klavier“, Band I von 1722 und auch Band II von etwa 1740.
Vielmehr ist es eher das Testament von Johann Sebastian Bach, der aufgrund seiner Augenkrankheit und deren Fehlbehandlung sein Ende nahe fühlte. Mit vermutlich letzter Kraft hat er nochmals all’ sein Können aufgeboten, um die Fuge im Musikgeschehen, das zu jener Zeit schon einen anderen Weg eingeschlagen hatte, dennoch zu verankern, folgert die Autorin.
Auch András Schiff bietet nun all’ sein Können und seine Liebe für Bach auf, um dem Publikum – nach seinem Einführungsvortrag – alles ebenso genau, farbenreich und mit der nötigen Betonung hören zu lassen, wie es Bach komponiert hatte. Da Schiff (ähnlich wie Bach) ein Perfektionist ist, spielt er diesmal nicht auswendig. Mit Brille und Notenbuch sitzt er am Flügel.
Alles soll 100prozentig richtig sein, denn so relativ schlicht wie bei den ersten Fugen bleibt es nicht. Höhere Anforderungen folgen, beispielsweise durch die Verwendung von Chromatik bei den Fugen III, VIII und XI.
Die letzte, noch vollständige Fuge, Contrapunctus 13, wird nun in der Fassung für zwei Klaviere dargeboten. Hinzu kommt Schaghajegh Nosrati, eine Absolventin der Barenboim-Said Akademie, die sich bereits international als Bach-Interpretin einen Namen gemacht hat und außerdem als András Schiffs Assistentin fungiert. Gemeinsam spielen sie diese Fuge.
Anschließend folgt der unvollendete Contrapunctus 14. Den konnte Johann Sebastian Bach trotz seiner schwindenden Kräfte gerade noch musikalisch mit B-A-C-H signieren. Danach noch einige wenige Takte und dann absolute Stille im ausverkauften Saal, so wie es vorab erbeten wurde.
András Schiff schaut ernst. Bachs plötzliches Ende beim Komponieren geht ihm noch immer sichtlich nahe. Eine der zahlreichen Vervollständigungen zu benutzen, kommt für ihn nicht infrage. Noch irgendeine Zugabe zu spielen? Da winkt er ab. Auch das ist András Schiff an diesem Abend emotional unmöglich und sensiblen Bach-Verehrern ebenfalls. – Stattdessen langer und herzlicher Applaus.
Ursula Wiegand