Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BERLIN/ Pierre Boulez Saal: 18 MESSEN von Josquin des Prez in vier Tagen – ein sensationeller Saison-Abschluss

17.07.2022 | Konzert/Liederabende

Berlin/ Pierre Boulez Saal: 18 Messen von Josquin des Prez in vier Tagen – ein sensationeller Saison-Abschluss, 16.07.2022

the tallis scholars mit dirigent peter phillips im pierre boulez saal. foto peter adamic (1)
Konzertfoto von den „Tallis Scholars“. Foto: Peter Adamik

Ein außergewöhnliches a capella Projekt beendete am 16. Juli die Saison im Pierre Boulez Saal, dem besten kleinen Konzertsaal Berlins: die Aufführung aller 18 Messen von Josquin des Prez (um 1450-1521), dem Star der europäischen Frührenaissance.

Eigentlich sollten diese Messen im August 2021 zu Josquins 500. Todestag erklingen. Das musste jedoch Corona bedingt verschoben werden. Wunderbar, dass sie nun in acht Konzerten nachgeholt wurden und trotz der Ferienzeit ein interessiertes und erstaunlich großes Publikum beglücken konnten.

Zwei Messen hintereinander wurden ab dem 13. Juli an den Nachmittagen um 15:00 Uhr geboten, an den Abenden dieser vier Tage um 20:00 Uhr waren es zwei oder drei, jeweils mit einer Pause. Besonders für die Sängerinnen und Sänger muss es trotz ihrer Perfektion eine große Herausforderung gewesen sein.

 Immerhin haben die britischen The Tallis Scholars, ein Ensemble für Alte Musik, spezialisiert auf geistliche Vokalmusik a cappella, und ihr musikalischer Leiter Peter Phillips, der das Ensemble 1973 gründete, mehr als drei Jahrzehnte gebraucht, ehe 2020 die Gesamteinspielung aller 18 Messen abgeschlossen wurde. Nun gab es im Pierre Boulez Saal die erste zyklische live-Aufführung dieser Werke.

Achtzehn mal vertonte also der Flame Josquin des Prez den lateinischen Messetext und hat jedes Mal eine eigene Klangwelt geschaffen. Keine Messe ist wie die andere. Vielleicht spielte es dabei eine Rolle, dass Josquin auch in Frankreich und Italien tätig war, übrigens auch als Sänger, und die dortige Musik ihn vermutlich inspiriert hat. Jedenfalls wurde er ein selbstbewusster Komponist und ein hochbezahlter Star, der angeblich nur arbeitete, wenn er dazu Lust hatte.

Im Pierre Boulez Saal folgten den „frühesten Messen“ am 13. Juli, entstanden um 1475 vermutlich in Frankreich, die Kanonmessen am gleichen Tag. Aus Termingründen war ich am 14. Juli  nachmittags vor Ort, bei den „L’homme-armé-Messen“.

Um was es sich dabei handelt, hat Peter Phillips auf Deutsch und Englisch im dicken Programmbuch erklärt, das auch weitere Artikel von ihm enthält, u.a. einen bebilderten Aufsatz, der darlegt, wie sehr die Malerei in jener Zeit der Musik voraus war.

Jedenfalls sei die „L’homme-armé-Melodie“ damals sehr bekannt gewesen und habe in mindestens 31 Fällen als Grundlage einer Messe-Vertonung gedient, auch bei anderen Komponisten, so Phillips. Hier im Saal wurden nun zwei Varianten der „Missa L’homme armé“ von folgenden 11 Damen und Herren gesungen::

Amy Haworth (Sopran), Elisabeth Paul, Caroline Trevor und Alex Chance (alle Alt), Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting und Ben Hymas (alle Tenor) sowie den Bassisten Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley und Robert Macdonald.

Die Mischung von Frauen und Männern bei den Alt-Partien fällt auf, noch mehr aber der reine polyphone Gesamtklang, der schwebend und dann – bei der etwas tieferen Wiederholung – wellenartig durch den ovalen Saal strömt. Klare Stimmen, reinste Intonation und alles ganz ohne störendes Vibrato. Jede und jeder widmet sich ihrem/seinem Part, und aus den hoch konzentrierten Einzelnen wird ein Ganzes.

Was aber eine Umstellung der Singenden und vor allem die Hinzufügung einer zweiten Sopranistin – Charlotte Ashley ! – bewirkt, beweist die folgende dieser Messen. Engelsgleich, aber doch kraftvoll steigt ihre  Stimme empor und scheint auch die Sänger-Kollegen zu animieren.

Weit mehr an Kontrasten fallen jetzt auf. Lebendigkeit statt ruhiges stimmliches Dahingleiten ist angesagt. Peter Phillips dirigiert nun markanter. Auch beim Sanctus singen die Soprane und die Bässe ausdrucksvoller ihren jeweiligen Part. Ruhig schwingend beendet das Agnus Dei diese Messe.

Am Nachmittag des 15. Juli sind die „Messen nach mehrstimmigen Vorlagen“ an der Reihe, und die Besetzung  ist einschließlich Charlotte Ashley fast dieselbe. Hinzu gekommen ist der Tenor Oscar Golden-Lee.

Auch wenn die Titel „Missa Fortuno desperata“ und „Missa Malheur me bat“ lauten, ist kein Drama zu befürchten. Beide Messen basieren auf einem weltlichen mehrstimmigen Lied unbekannter Komponisten. Die Texte sind auch nicht überliefert, weiß Peter Phillips. Die Sängerinnen und Sänger werden jetzt zu einem kleinen, lebendigen und farbigen Chor.

Auffallend ist jedoch, wie sehr diesmal der Experte Peter Philips in den Noten hängt und quasi in sie hinein dirigiert. Nach dem Umblättern der Seiten fällt das besonders auf. Da ich ihn anders als am Vortag von vorne sehe, bin ich davon überrascht. Ständig schaut er in die Partitur, als wäre sie ihm neu, was keineswegs der Fall sein kann. Und nur gelegentlich blickt er beim Zeichengeben auf zu den Sängerinnen und Sängern.

Denen kann er jedoch voll vertrauen. Sie wissen genau, was sie zu tun und zu singen haben. Das intensiv komponierte und auch dementsprechend gesungene Kyrie fällt ebenso auf wie die ausdrucksvollere Behandlung von Sanctus und Benedictus.

Eine insgesamt farbenreichere Messe als die bisher gehörten ist das, und ebenso farbenreich wird sie gesungen. Am Tag zuvor war der Jubel stark, nach dieser Messe fällt wird er noch stärker. Die jungen Leute – etwa die Hälfte des Publikums – pfeifen und lärmen vor Glück. Josquin des Prez, so dargeboten, hat nach gut 500 Jahren hörbar neue Interessenten gewonnen.

 Ursula Wiegand

 

 

Diese Seite drucken